Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
sie eigentlich inzwischen mit ihm verheiratet sein sollte?
Sie sah den Brief noch einmal an und entdeckte ein PS: Denk dran, die Dinge zu verstecken, von denen ich Dir erzählt habe .
»Du kannst mich mal, Dan!«, sagte sie in die leere Küche hinein und spürte dann die ersten Tränen des Tages in ihren Augen brennen. Als sie sich schließlich ausgeweint und wieder frisch gemacht hatte, war es schon so spät, dass man im Büro wahrscheinlich davon ausging, dass sie an diesem Tag nicht mehr kommen würde.
Keisha
Keisha hockte sich hin und ächzte. Wie zum Teufel hatte ihre Mutter solche Unmengen Müll ansammeln können? Der Abstellraum über der Treppe war total vollgestopft mit irgendwelchem moderig stinkenden Schrott. Ihr Haar war inzwischen so eingestaubt, dass es aussah, als wäre sie über Nacht ergraut, und Mercy hatte nie eine richtige Dusche einbauen lassen. Ihre Mutter hatte nie begriffen, dass man Nicht-Afro-Haar tatsächlich regelmäßig waschen musste. Als Teenager war Keisha so speckig gewesen, dass man sie als Fettspender hätte verwenden können, aber irgendwann hatte sie dann doch noch die Kurve gekriegt.
Das Ausräumen hing ihr schon zum Halse raus, aber sie konnte einfach nicht zulassen, dass Mercys gesamter Hausrat in den Müllcontainer wanderte, obwohl das meiste davon Mist war: Teller mit Prinzessin Diana drauf, sämtliche Ausgaben des Kirchen-Rundschreibens seit gefühlt 1800, unzählige Einkaufstüten von Tesco, die ihr jedes Mal entgegenkamen, wenn sie eine Schranktür aufmachte. Mercy hatte als Kind in Armut gelebt – mit zehn Geschwistern in einer kleinen Hütte –, daher ihre Sparsamkeit. Sie warf nichts weg.
Keisha sortierte den ganzen Kram in Sachen, die in den Müll kamen, und Sachen, die sie im örtlichen Oxfam-Laden abliefern würde. Da sie immer noch nicht wusste, wo sie anschließend bleiben sollte, hatte sie sich einen kleinen schwarzen Rucksack gesucht, in den sie nun die Dinge tat, die sie aufbewahren wollte. Wie etwa die scheußliche Brille ihrer Mutter. Wer würde sich sonst daran erinnern, wie Mercy jedes Mal danach gegriffen hatte, wenn sie in einem Laden ein Preisschild ablesen wollte? Anschließend hatte sie die Brille wieder abgenommen, zum Zeichen, wie entsetzt sie über den Preis war.
Am schwersten war es ihr gefallen, das Schlafzimmer auszumisten. Alles dort erinnerte sie an ihre Mutter: ihr Talkumpudergeruch, ihre flauschigen Strickjacken und die ausgetretenen alten Schuhe, in denen sie die Straße entlanggewatschelt war. Keisha kniete vor dem Kleiderschrank und fischte gerade, weit vorgebeugt, die letzten Schuhe heraus, als ihr etwas auffiel. Da war etwas zwischen die Unterseite des Schranks und den hellgrünen Teppichboden gestopft, eine Art Mappe, die nach Schule aussah. Sie zog sie hervor, froh über die Ablenkung.
Die Mappe enthielt einige Aufsätze. Von Hand geschrieben natürlich, ihre Mutter war ihr ganzes Leben lang nie auch nur in die Nähe eines Computers gekommen, und es ging offenbar um irgendwas Juristisches. Wer hätte gedacht, dass ihre dicke alte Mum sich mit so was auskannte? Versonnen lächelnd angesichts dieser Entdeckung, blätterte Keisha in der Mappe weiter und stieß auf eine Seminarbroschüre: Einführung in die Rechtspraxis . Da fiel ihr wieder ein, dass Mercy ein paarmal gesagt hatte, sie hätte Rechtsanwaltsgehilfin werden können. »Ich hätte jetzt einen guten Job haben können – wenn du nicht gewesen wärst, Frechdachs Keisha.«
Der Kurs hatte am 20. September 1984 begonnen, gut ein Jahr vor Keishas Geburt. Mercy hatte ihr ewig Vorhaltungen gemacht, was ihre Schulbildung anging. »Du hattest die Chance, auf diese gute Schule zu gehen, und das hast du dir verbaut, Miss. Was soll jetzt aus dir werden?« Und wenn Keisha dann frech entgegnet hatte: »Mum, du wischt irgendwelchen Leuten den Arsch ab, was weißt du denn schon?«, hatte ihr Mercy mit ihrer großen Hand mit den Ringen dran eine saftige Ohrfeige verpasst und gesagt: »Ich bin in dieses Land gekommen, um zu studieren, weißt du das? Aber dann kamst du, und da war Schluss damit.« Es war also einzig und allein Keishas Schuld. Wie überhaupt alles.
Sie schlug die Mappe wieder zu und nahm sich vor, sie in ihren Rucksack zu stopfen, als ihr etwas auffiel.
Kurs-Tutor , stand da, und daneben, mit Schreibmaschine: IAN STONE . Diesen Namen hatte sie schon mal irgendwo gesehen – und zwar in der gleichen Schrift. Es war lange her. Wo war das gewesen?
Dann fiel es ihr
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