Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
Jahren die Fenster nicht mehr aufgemacht. Sie hielt frische Luft generell für ungesund, und in Gospel Oak hatte sie vielleicht sogar Recht damit. Aber sie war ja nicht mehr da.
Keisha trug die Tasche in die Küche und legte sie auf den kleinen ramponierten Küchentisch. Sie nahm die mit einer Kordel versehene Brille ihrer Mutter heraus und setzte sie auf. Durch die dicken Gläser sah sie alles nur noch verschwommen. Es tat ihr in gewisser Weise gut, die Küche nicht mehr klar und deutlich sehen zu können, denn nun sah sie diesen Raum vor ihrem geistigen Auge, wie sie sich aus ihrer Kindheit daran erinnerte. Mercy, wie sie in der engen Küche umherschnaufte, in der es stets nach Frittierfett roch. Aber nein, sie war nicht mehr sieben, sie war jetzt fünfundzwanzig, verdammt noch mal, und Mercy war nicht mehr da.
Scheiße. SCHEISSE. Wie konnte das geschehen? An diesem Morgen hatte ihre Mutter noch rumgegrummelt und sich Tee auf ihre scheußliche braune Wollstrickjacke gekippt. Und jetzt war sie – tja, wo eigentlich? Nicht mehr im Krankenhaus, streng genommen. Wohin war sie gegangen? Pastor Samuel aus der Kirche würde behaupten, er wüsste es. Auch Mercy selbst hatte geglaubt, es zu wissen. Vielleicht hatte sie deshalb keine Angst vor dem ersten Herzinfarkt gehabt, weil sie ganz sicher war, dass ihr Gott sie schon erwarten würde, in einem Lichtermeer, oben an einer Treppe, ein bisschen wie die Leute im Fernsehen bei Stars in Their Eyes immer durch den Rauch hindurch verschwanden. Keisha aber, die hatte keinen blassen Schimmer.
»Mum«, sagte sie in die leere Küche hinein. Das kam ihr geistesgestört vor. In Gedanken fuhr sie fort: Was zum … soll ich denn jetzt machen? Die vom Amt haben gesagt, sie wollen das Haus nächste Woche neu vermieten. Sie haben gesagt, bis dahin muss ich es komplett ausgeräumt haben. Besenrein. Sie haben gesagt, Ruby ist jetzt bei einer Pflegefamilie. Sie haben gesagt, erst wenn ich selber ein stabiles Zuhause habe, könnte man eventuell darüber reden, dass ich Ruby wiederbekomme. Ich hab momentan aber überhaupt kein Zuhause. Und Chris, das verdammte Schwein – sorry, Mum, ich weiß, meine Ausdrucksweise –, der ist irgendwo da draußen … Und ich weiß nicht, was ich machen soll. Mum. Was soll ich tun?
Aber Mercy konnte ihr da nicht mehr helfen. Denn man hatte ihr gesagt, sie sei gestorben. Sie sei tot. Ein zweiter Herzinfarkt sei absehbar gewesen, hatten sie gesagt. Viel zu hohe Cholesterinwerte, hatten sie gesagt. Sie hatten nichts mehr tun können.
Keisha nahm die Brille wieder ab, doch auch ohne diese Brille würde die Welt nie wieder richtig aussehen.
Charlotte
Irgendwas hatte sie geweckt. In der Wohnung war es still, man hörte nur den Kühlschrank brummen und die Uhr ticken. Dans Seite des Bettes war kalt.
Geräusche. Das hatte sie geweckt. Stimmen auf der Straße. Sie setzte sich auf, ihr Herz raste. Sie warf sich Dans Pullover über und ging zum Fenster. Zunächst konnte sie im orangefarbenen Schein der Straßenlaterne nichts erkennen. Dann bewegte sich einer der Schatten – es waren Leute, schwarz gekleidet. Jugendliche. Dann traf der erste Stein das Haus, und sie wich vom Fenster zurück.
O Gott. O nein.
Sie lachten. Sie wussten, dass sie zu Hause war, dass sie dort kauerte wie eine verängstigte Maus. Ein weiterer Stein, der diesmal vom Fenster abprallte. O Gott, lass sie bitte nicht das Fenster einwerfen!
Dann die Erleichterung: Mike von unten brüllte durch den Briefschlitz hinaus: »Wenn ihr nicht sofort verschwindet, rufe ich die Polizei!«
Er machte die Tür nicht auf, so mutig war Mike nicht. Nach und nach trollten sich die Jugendlichen, fuhren auf dem Hinterrad davon. Einer schrie etwas von wegen Scheiß-Rassisten . Charlotte sah, wie Mike die Haustür öffnete, das Laternenlicht schimmerte auf seiner Kopfhaut. Sie sah, wie er sich umblickte und dann zu ihrem Fenster hinaufschaute.
Zitternd vor Angst und Einsamkeit nahm sie ihr Telefon und rief ihre Freundin Holly an. Es war spät und der nächste Tag ein Montag, aber es war ja schließlich ein Notfall. Es klingelte und klingelte, und dann meldete sich der Anrufbeantworter, und die Stimme ihrer Freundin flötete: »Hi, hier ist Holly, ich kann gerade nicht rangehen … «
Charlotte stellte sich vor, wie ihre Freundin von dem Klingeln geweckt wurde, auf dem Display sah, wer sie anrief, und den Anruf ignorierte. Sie scrollte sich durch ihr Adressbuch. Wen gab es denn da noch? John, Chloe, Tom …
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