Am Schwarzen Berg
silberne Kanne mit dem dickgeringten Bauch, ein mit warmem Tee gefülltes Michelinmännchen, tröstete Veronika. Mit ihr vor Augen konnte sie sich einreden, der Graf habe irgendwo ein Dach über dem Kopf, wo er sich jeden Morgen sein Getränk zubereitete. Doch heute war seine Ordnung in einer Ecke zusammengeschoben und aller Würde beraubt. Wüst fuhren die Hefte durcheinander, Bleistifte rollten über den Boden. Dort unten stand auch die Kanne und spiegelte, vorwurfsvoll verzerrt, ein Tischbein.
Es gab nicht viel zu sagen.
»Dieser Herr ist mir seit Jahren als Benutzer bekannt, der nie den geringsten Anlaß zu Beschwerden gegeben und sich stets an die Hausordnung gehalten hat. Er sitzt immer hier, damit er leichteren Zugang zu seinem Forschungsmaterial hat. Ich muß Sie bitten, das zu respektieren.« Schon sammelten die Kleinen ihren Krempel ein und zogen murrend davon, fast zu schnell. Der Sieg schmeckte schal, so leicht war er errungen. Veronika fand danach sogar zu einer überlegenen Freundlichkeit zurück und führte die Randaliererinnen zu einem der Gruppenarbeitstische in der Saalmitte. Sie zeigte ihnen auch die Balustrade im Vormittagsschatten, die einladenden Aluminiumstühlchen, die Aschenbecher daneben. Der Abschied, Kopfnicken und Lächeln auf beiden Seiten, verlief respektvoll.
Veronika kehrte zum Auskunftsplatz zurück. Im Vorübergehen sah sie auf den Rücken des Grafen. Eine lautlose Bewegung ging durch den ganzen, vom Schreiben geschüttelten Körper. Er war vollkommen versunken in seine Arbeit. Die dünnen Schulterblätter hoben und senkten sich unter dem fleckigen Stoff des blauen Hemdes. Ein breiter Riß klaffte in Schulterhöhe. Darunter leuchtete ein Streifen Haut, der Veronika überraschend flaumig und zart erschien, wie die Schale einer Frucht. Ihr fiel ein, was Emil vorhin über Peters Rücken gesagt hatte: daß er »mit Schwären bedeckt« gewesen sei und »der ganze herrliche Knabe ein Elendsbild, heruntergekommener als der schlimmste Wermutbruder, mit einem schauerlichen Bart«. Das fressende Gefühl der Angst, das sie durch den Streit am Fenster für eine Weile verlassen hatte, nistete sich wieder in der Mitte ihres Körpers ein. Sie konnte spüren, wie es aus der Tiefe in alle Richtungen pulste, wie es ihren Kopf senkte, die Brauen zusammenzog, die Fingernägel in die Handballen drückte.
Vielleicht hatte Emil sich geirrt. Ein Auftritt der klassischen weißen Mäuse. Es wäre nicht das erste Mal gewesen. Schon in den Wochen vor den großen Ferien hatte er damit angefangen, sich einen sanften, aber kontinuierlichen Pegel zu verschaffen. Er trank nicht mehr nur abends, wie es seit Jahren ihre Abmachung war, sondern bereits gegen Mittag. Dazu hatte er den Kristallpokal mit den verschlungenen Initialen seiner Mutter hervorgekramt, aus dem er sich zum Essen Weißwein genehmigte (»wie die alten Römer«). Manchmal mixte er schauerliche Kreationen nach einem Cocktailbuch aus den dreißiger Jahren und lenkte mit Histörchen ab, wenn Veronika ihn zur Rede stellte: »Probier mal, das ist köstlich, es heißt Golden Shower! Keine Sorge, nicht das, was du schon wieder denkst. Bloß Gin mit Ananassaft. Von Tom Textor, der muß dir doch ein Begriff sein. Vor dem Krieg der beste Barkeeper Stuttgarts. Er hatte das ›Fegefeuer‹ am Charlottenplatz, da traf sich die ganze Szene, später auch Widerständler. Die Gestapo hat ihn in ihrer Zentrale im Hotel Silber bestialisch umgebracht. Textor liegt auf dem Waldfriedhof. Sein Grabmal ist ein heiliger Sebastian, ganz klein, roter Sandstein, bißchen pausbackig. Sein Freund, der Bildhauer Theo Nolten, hat den für ihn gemacht, ein Jahr bevor er nach Theresienstadt kam.«
Wegen seiner ständigen Trinkerei war Emil in letzter Zeit praktisch nicht aus Burghalde herausgekommen. Die Straßenbahnfahrt nach Stuttgart hinein war ihm zu umständlich. Das Auto war keine Möglichkeit. Der Lappen war wieder weg, der Teufel wußte, ob er ihn diesmal zurückbekommen würde. Bereits Anfang Juli war Emil mit aufgedrehten Stones die Hackstraße entlanggeschlingert und auf Höhe des Gaskessels in eine Polizeikontrolle geraten. Veronika weigerte sich seitdem, ihn zu chauffieren. Sein Verhalten sollte nicht auch noch belohnt werden. Sie hatte es rundheraus abgelehnt, alleine die Strecke nach Lugano herunterzureißen, wo sie sonst zumindest ein paar Tage verbrachten.
Emil schien das alles gleichgültig zu lassen. Er lag unter dem Mirabellenbaum im Gras und las. Wenn sie
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