Am Schwarzen Berg
ihn ansprach, antwortete er mit Scherzen und Zitaten. Einmal in der Woche lief er ins Dorf hinunter und traf sich mit den anderen Mitgliedern der örtlichen Bürgerinitiative im alten Feuerwehrhaus in der Gängelbachstraße. Sie setzten sich vor allem für den Erhalt der Streuobstwiesen rund um die Dorfgemarkung ein. Dieses Grüppchen, dessen Schriftführer Emil seit den Siebzigern war, stellte den Wurmfortsatz seines buntgemischten, nie wirklich ernsthaft betriebenen politischen Engagements dar. Im Keller verstaubten die Schriften von Adorno, Habermas und Erich Fromm neben den Überlebenden der vorjährigen Apfelernte. In ihrem verblichenen Ernst erinnerten diese Bücher Veronika an das Ausschußregal im Wilhelmspalais, das im Vorraum der Benutzertoiletten stand. Dort wurden die Sedimentschichten einer ganzen Ära im Querschnitt für 20 Cent aufwärts feilgeboten, Buchrücken mit loser Bindung und anklagenden Aufschriften. Erst kürzlich hatte Veronika neben einem Ratgeber für Wehrdienstverweigerer ein Lehrbuch für Mathematik in der Grundschule von 1978 dort einsortiert.
Das gleiche Rechenbuch mit dem blaugelben Quadrat auf dem Einband war bald nach dem Einzug der neuen Nachbarn in der Küche der Bubs aufgetaucht. Emil hatte kopfschüttelnd darin geblättert: »Schwachsinn, diese Mengenlehre in der ersten Klasse. Kein Wunder, daß es jetzt mit dem Einmaleins hapert.« Damals erwog Veronika ernsthaft, sich von ihrem Mann zu trennen, weil sie die Anwesenheit des kleinen Jungen, der auf einmal immer öfter an ihrem Küchentisch saß, einfach nicht ertrug. Peter rechnete mit dreistelligen Zahlen und quälte sich unendlich über einem karierten Heft. Sein roter Bleistift trug einen Kranz von Zahnspuren. Hoch und fordernd rief Peter nach Emil: »Du, Emil, ich kapier’s einfach nicht!« Sein Geruch nach frisch gemähtem Gras und Waschpulver und der Anblick der wenigen, fast durchscheinenden Sommersprossen auf seinem Gesicht waren zuviel für Veronika. Sie lief an dem Paar in der Küche vorbei und schloß sich oben im Schlafzimmer ein, bis Peter wieder nach Hause ging. Aus heiterem Himmel hatte Emil dieses Kind angeschleppt. Sein schuldbewußtes Schafsgesicht, das unsichere Lächeln, das Gezupfe an der Haartolle: »Was hätte ich denn tun sollen! Sie haben mich mehrfach um Nachhilfe gebeten, alle beide. Und es wäre wirklich schade um ihn. Das ist ein begabter Junge, der gehört nicht auf die Realschule.«
Im Wilhelmspalais klingelte Veronikas Telefon. Sie reagierte nicht. Bald nach ihrem Einzug am Schwarzen Berg hatten Carla und sie über die Hecke hinweg ein Gespräch unter Nachbarinnen geführt: »Wie gut, daß Peter so gerne bei euch ist. Es kann nicht schaden, wenn noch mehr Leute ein Auge auf ihn haben. Er ist ein Pechvogel, mein Schnuck. Schon bei seiner Geburt hab ich graue Haare bekommen. Sechs Wochen zu früh. Heulend hab ich vor dem Brutkasten gestanden.« Peter war plötzlich aus dem Gebüsch gekrabbelt. Carla griff nach seinem dünnen Arm, schob den weinroten Nickipullover hoch und zeigte Veronika einen verschorften Kratzer am Ellbogen. »Schau mal, schon wieder ein Unfall!« Carla lächelte, als sie das schmale Gelenk ihres Sohnes mit einem Kuß versah. Er schubberte seinen Kopf gegen ihre Hüfte, wie ein Kalb, das sich an einem Zaun reibt, sah dann kurz zu Veronika hinüber, mit freundlichem, fast nachsichtigem Blick, bevor er sich entzog und davonrannte.
Peter war unwiderstehlich gewesen. Er hatte sich in ihrem Innersten eingenistet, ohne den verzweifelten Widerstand zu beachten, mit dem sie zu Anfang gegen diese Besetzung gekämpft hatte. Emil hatte sofort nachgegeben, willig, schwach, befallen von Peteritis bis in die Blutbahn. Veronika wollte sich nicht erobern lassen. Ihre Kinderlosigkeit war irgendwann zu einer ruhigen Gewißheit geworden, mit der sie jahrelang gut und frei gelebt hatte. Frei von Verstrickungen in Familienverbände, zu denen man am Ende doch nie ganz gehören durfte, trotz der fordernden Systeme von Patenschaften und Tantentum. Frei von Zuneigung zu Katzen und Hunden, die trotz aller an sie gerichteten Reden niemals Menschen werden konnten. Frei von der Versuchung, sich selbst als Opfergabe einer Kirche, einer Partei anzutragen. Es gab immer mehr Frauen, die laut auszusprechen wagten, daß ein anderes Leben möglich war: jenseits einer Vergötzung der Eierstöcke, des milchsauren Stillkults, des kuhwarmen, hirnlosen Dienstes am Kind, bei dem das eigene Selbst auf der Strecke
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