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Am Schwarzen Berg

Am Schwarzen Berg

Titel: Am Schwarzen Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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blieb. Was hatte Peter gebraucht, um all dies über den Haufen zu werfen? Einen Blick, eine Handbewegung, eine Wunde über dem Ellbogen, bei deren Anblick Veronikas eigene Haut brannte?
    Das Telefon läutete weiter. Veronika meldete sich mit ihrer üblichen Formel. »Stadtbücherei, Bub-Beyer, guten Tag, was kann ich für Sie tun?« Sie verlängerte Medien, gab Öffnungszeiten durch, ließ sich für Mahngebühren beschimpfen und war so erneut gezwungen, ihre Gedanken zu unterbrechen, auch wenn es in ihrer Magengrube weiter klopfte und nagte. Die Mädchen von vorhin schlenderten langsam auf die Glastür zu. Sie umringten einen Kopierer im Treppenhaus und begannen, in den Büchern herumzublättern, die sie mit nach draußen genommen hatten. Die Kleine mit dem grünen Lidschatten zeigte grinsend auf die von der Decke baumelnden Lampenschirme und rieb sich den Bauch. Die Schirme waren mit überdimensional vergrößerten Süßigkeiten bedruckt: Schokohasen, Lutscher, Erdbeerschnüre.
    Veronikas Schreibtischschublade unten im Büro war mit ähnlichen Herrlichkeiten bestückt gewesen, als Peters Gymnasialzeit an der Schillerstraße begonnen hatte. Damals tauchte er mit schöner Regelmäßigkeit in der Stadtbücherei auf. Zum Ende des Nachmittagsunterrichts brachte Veronika den Sohn der Nachbarn wieder zurück nach Burghalde, zurück zu einem liebevoll vorbereiteten Essen. Daß Carla häufig halbvolle Teller zurück in die Küche trug, weil Peters Magen schon zu viel Schubladeninhalt beherbergte, ahnte sie nicht. Sie versicherte Veronika nur, wie froh sie sei, daß ihr Schnuck nicht allein in der Straßenbahn sitzen müsse. Veronika erinnerte sich an den holzigen Geruch von Peters verstrubbeltem Haarschopf, wie er still seinen Ranzen wegstellte und Bücher in die Hand nahm, die natürlich nur seinetwegen hier herumlagen. Fünf Freunde, Hitchcock, TKKG . Ihr fielen seine von der letzten Erkältung noch rötlich verschorften Mundwinkel wieder ein, die kleine Ausbeulung seiner Hosentaschen. Fundstücke vom Straßenrand waren noch immer wichtig, Knallpistolenringe, Kieselsteine, eine Schraubenmutter. Tinte an den Fingerkuppen, eine abwaschbare Tätowierung auf dem Oberarm. Die süßliche Ausdünstung seines Kaugummis, Bazooka Joe. Der abgebrochene Eckzahn links oben, die langen rußfarbenen Wimpern, die zackige Schatten auf die zarte Haut warfen, die weichen dunkelblonden Brauen, der fast immer in die Ferne weisende Ausdruck seiner Augen, selten hellwach. Das selbstvergessene Schweigen dauerte, bis ihm etwas durch den Kopf ging und er ein Gespräch begann: ein neuer Witz, eine Geschichte aus der Schule. Am Ende kam immer die Frage: »Kannst du die Schublade aufmachen?« Die Schublade war einer der Tricks, die sie glaubte für die Zuneigung dieses Kindes anwenden zu müssen. Neben Sahnekaramellen lagen Colafläschchen, Brausewürfel, Gummibären. Peters Lieblingssüßigkeit waren rosa Mäusespeckbällchen, die, in Kokosspänen gewendet, wie weißstachelige, neugeborene Igel aussahen. Es gab sie nur im Kiosk des Leo-Vetter-Bades am Ostendplatz, wo das verhaßte Schulschwimmen stattfand. Nach fünf Minuten seligen Wühlens ließ Peter sich widerstandslos in den Arm nehmen und Bonbonmasse von der Wange wischen. Er war jedesmal aufs neue begeistert, der Druck seiner Umarmung blieb heftig. Veronika schämte sich für ihr plumpes Vorgehen, aber sie wußte, sie saß fest, eingeschnürt in seinem Leben wie die geschenkten Buntstifte, die hinter den Gummischlaufen seines Schülermäppchens staken.
    Im Lesesaal war es plötzlich ganz ruhig. Ein gleichmäßiges Summen und Murmeln, Blättern und Knistern durchdrang den Raum. Niemand sprach, die Leute hatten die Köpfe über ihre Bücher gebeugt. Stadtverkehr und Spatzengetschilpe aus den Büschen um das Palais drangen nur gedämpft herein. Im Treppenhaus surrten die Kopierer. Veronika ließ ihren Blick über die Lesenden schweifen, deren Gesichter still und flach in tiefer Versunkenheit verharrten. Die meisten hatten die Augen halb geschlossen, atmeten tief. Manchmal wurde leise geseufzt oder stöhnend Luft eingesogen. Ein paar Erschöpfte schliefen mit den Köpfen auf den aufgeschlagenen Büchern: Studenten, die in der Landesbibliothek nebenan keinen Platz gefunden hatten und jetzt über ihren Gesetzestexten zusammengesunken waren, aber auch der Graf, der seine Nächte vermutlich auf den Gittern von Luftschächten verbrachte, umtost vom Sausen der Gebläse und der Angst um das eigene Leben.

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