Am Schwarzen Berg
Auf den übrigen Stühlen saßen drei junge Männer in glänzenden Jogginganzügen und engen Shirts, die eifrig an zusammengerollten Lahmacuns kauten und die Augenbrauen hochzogen, als er auf sie zukam. Peter war verschwunden.
10 Die Kinder schliefen schon seit Stunden, aber Mia hatte noch nicht gewagt, sich hinzulegen. Sie saß in einem Liegestuhl und schaute in Georgs schwarzen Garten. Grillen zirpten laut und metallisch in der Dunkelheit. Der Mond war fleckig und blaß, doch sein Licht zeigte deutlich die Umrisse der Bäume und Sträucher ringsum. Auf der gegenüberliegenden Seite glitt der Nachtzug nach Mailand wie ein leuchtender Wurm am Fuße der Berge vorüber. Die Nacht war kühl und roch nach Holzrauch und Thymian, der zwischen den Steinplatten wucherte. Sein Duft wurde stärker, als Mia ihn auf ihrem Weg in die Küche zertrat, um ihre Jacke, Zigaretten und das Handy zu holen. Hinter dem Fliegengitter brannte eine Hängelampe. Der Rand des milchigen Glasschirms war gekräuselt wie eine Rüsche. Aprikosengelbes Licht fiel auf die polierte Tischplatte, über Müslischalen und Becher, die sie für den nächsten Morgen zurechtgestellt hatte, auf das Geschirr in der Spüle, die blanke Espressokanne. Auf der Bank an der Wand schlief die Katze. Ihr Schwanz bebte über den Vorschulheften der Jungen.
Mia rieb sich die Augen. Sie traute sich erst ins Bett, wenn sie so müde war, daß sie taumelte, gegen Türrahmen und Wände stieß und sicher sein konnte, daß ihre Erschöpfung für eine mehrstündige Schlafspanne ausreichte. Sonst war sie dazu verdammt, sich bis zum Morgen um sich selbst zu drehen wie ein Hähnchen am Spieß. In den letzten Wochen hatte sie sich angewöhnt, kurz vor dem Zubettgehen mehrere Gläser Wein hastig hinunterzukippen, mit zusammengekniffenen Augen und angehaltenem Atem. In Georgs Küche gab es ein gemauertes Regal, in dem die Flaschen nach Jahrgängen sortiert lagen. Sie bediente sich aus der obersten Reihe. Der Wein schmeckte herb, und Mia fror, als sie ihn schluckte. Ein heißer Tee wäre ihr lieber gewesen. Sie vertrug nicht viel und hoffte, bald den ersehnten Dämmerzustand zu erreichen, der ihr gerade noch erlaubte, die ungewohnte schmale Treppe hinaufzusteigen und sich in das bleiche Viereck zu stürzen, das der Mond durch das Oberlicht auf das breite Bett warf. Fast immer schlief sie in ihren Kleidern ein. Wenn sie in den frühen Morgenstunden naßgeschwitzt und zitternd aufschreckte, wußte sie oft nicht, wo sie sich befand. Ungeschickt streifte sie Jeans oder Sommerkleid ab und zog ihr Einhorn-Schlafshirt an. Dies steckte, zu einem ordentlichen Päckchen gefaltet, unter dem Kopfkissen und roch noch immer leicht nach dem Komponenten-Waschpulver aus dem Etzelweg. Peter hatte das Zeug wieder und wieder gekauft, obwohl sie ihm gezeigt hatte, daß es nicht einmal die harmlosesten Flecken herausbrachte und die gesamte Wäsche mit einem Grauschleier überzog. Das Einhorn-Hemd war knielang, sein Baumwollstoff schmiegsam und altersmürbe. Das Lächeln des Fabeltiers auf der Vorderseite war nach Hunderten von Waschgängen zu einer melancholischen Grimasse abgeschliffen, das Horn sah ohne seine Pailletten aus wie ein verdrehter Stock. Ihre Mutter hatte das Nachthemd aus einem Schnäppchen-Markt mitgebracht, als Mia noch Studentin war. Im Wohnheim und in ihrer Ludwigsburger WG hatte sie es oft getragen. »Jetzt wird sie Lehrerin, mein Fässle!« Der Stolz in den Augen der Mutter hatte fast wehgetan. Als Mia mit Peter zusammenzog, war ihr das Hemd peinlich gewesen. Seit ihrem ersten Studentenjob auf dem Messegelände am Killesberg variierte Mia das Kostüm der adretten Hostess, in die sie sich damals verwandeln mußte. Verblüfft hatte sie festgestellt, daß sie sich in der geliehenen Aufmachung aus Bluse, Blazer und kurzem Rock sicher und sexy zugleich fühlte. Es bestand keine Notwendigkeit, je wieder von dieser beschützenden Uniform abzuweichen. Die wenigen Dinge, die nach dem Tod der Mutter aus dem mageren Weiberhaushalt in der Geislinger Straße übriggeblieben waren, kamen auf den Sperrmüll. Nur wenn Mia für Ivo und Jörn Pudding kochte, rührte sie Zucker und Puddingpulver in einem Keramikbecher zusammen, auf dem sich zwei nackte Comicfiguren, Männlein und Weiblein, an den Händen hielten und lächelten. »Liebe ist … wenn dir morgens jemand den Kaffee bringt«, stand in der Sprechblase über ihnen. Der Henkel war mit Pattex geklebt, das die Bruchstelle bräunlich verkrustete.
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