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Am Schwarzen Berg

Am Schwarzen Berg

Titel: Am Schwarzen Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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über den Essern. Der Kellner hinter dem Tresen fiel ein. Er schloß halb die Augen und wiegte sich in den Hüften, während seine Hände geschickt Gläser spülten und in ein Abtropfgerüst stellten. Peter hob den Arm und winkte ihm zu. »Bitte, bring mir noch einen Wein!« Emil packte ihn am Handgelenk. »Du hast jetzt genug getrunken, es reicht. Ich seh mir das nicht mehr länger mit an!« Vorsichtig, als löse er die grapschende Hand eines Kindes, bog Peter Emils Finger einen nach dem anderen auf. Er schüttelte den Kopf und sagte leise: »Ich muß auf die Toilette, bitte, laß mich los.« Emil spürte, wie er rot wurde. Er vermied es, aufzusehen, während Peter nach hinten zu den Waschräumen ging. Der Kellner brachte leise summend ein neues Glas Wein. Emil leerte es hastig. Plötzlich stand Peter wieder neben ihm. »Können wir gehen?« Die Übelkeit überfiel Emil unvermittelt. Er hatte ihre Vorboten, Schwitzen, Herzklopfen, das ungeduldige, fast ausgelassene Pochen im Magen, schon die ganze Zeit ignoriert. Mit einer Faust im Mund gelang es ihm, durch den klappernden Perlenvorhang in die Toilette zu hasten, wo er sich in einem vielfarbigen Schwall erbrach.
    In dem winzigen Verschlag roch es nach künstlichem Zitronenduft. Die grünen Kacheln waren feucht und schmierig. Emil ließ sich auf dem Rand der Kloschüssel nieder und wischte sich den Mund ab. Fast alles war danebengegangen, seine Schuhe vollgespritzt. Er lehnte den schmerzenden Kopf gegen die Wand und schloß die Augen. Der Putzmittelgeruch erinnerte ihn an Carla. Er wußte, daß sie sich über diese Assoziation ärgern würde.
    Vorgestern abend kam sie mit laut knallenden Absätzen durch seinen Flur gelaufen, durchs Wohnzimmer und hinein in die Küche, in schief getretenen, längst ausgedienten Tanzschuhen, die jetzt an Putz- und Gartentagen Frondienst leisten mußten. Sie hatte sich keinen Deut darum geschert, ob Emil Besuch wollte oder nicht. Er war allein, mit einem Glas Lauffener Katzenbeißer und einem Teller kalter Nudeln.
    »Ich bin eine gute Mutter, nicht wahr?« Ihre Augen waren so weit aufgerissen, daß man die geäderten Augäpfel rings um die Iris sehen konnte. »Ich bin jetzt eine gute Mutter, und ich war damals eine gute Mutter. Der Vorname vom Reh, Emil, weißt du noch, das fand er immer so witzig: Kartoffelpü. Weißt du nicht mehr, wie wir immer im Garten gesessen haben, unter der Markise? Und wenn es kalt war, im Wohnzimmer auf dem Teppich. Er hat überhaupt alles auf dem Fußboden gemacht, sogar die Hausaufgaben. Kniffel haben wir gespielt, stundenlang. Wenn er mit diesem blau bedruckten Block ankam, wußte ich, daß der ganze Nachmittag verloren war. Wir haben es so gut zusammen gehabt, auch wenn Hajo oft nicht dasein konnte.« Sie schniefte, ein Tropfen hing an ihrer Nase, mit einer ungeduldigen Bewegung wischte sie ihn ab.
    »Als ich gestern in die Praxis gefahren bin, habe ich das Radio aufgedreht, es kam was Seichtes, ›Mamma Mia‹ von Abba. Ich habe mitgesungen, nur zwei Minuten, länger geht ja kaum ein Song. Außer ›Whiter Shade of Pale‹.« Sie verzog das Gesicht. »Es tat so gut, ihn kurz zu vergessen. Ich denke ja nicht an ihn. Es ist viel schlimmer. Ich spüre ihn, seinen Kummer, drückend wie Magenschmerzen – wenn ich wach bin, wenn ich schlafe, immer.« Emil hatte eselhaft mit dem Kopf genickt. Sie sah ihn nicht an, zerfaserte den Gürtel ihres Leinenkleides mit den Fingernägeln. »In der Praxis war es gut. Das Telefon klingelte die ganze Zeit, die Türglocke auch. Ein Notfall kam, nichts Besonderes, bloß ein Kreislaufkollaps, aber die Zeit war ruck, zuck um und ich wieder draußen.« Carla sprach weiter: »Da stand sie, mit ihrem Einkaufskorb. Edith, du kennst sie doch, Prinz Eisenherz in schlohweiß. Ihr jüngster Sohn war mit Peter auf der Grundschule. Sie wohnt im Klotzbockweg, ihr Mann ist Ingenieur. Geplänkel über das Wetter, die Hitze, ganz schlecht für den Garten, die Demos in der Stadt, wohin das noch führen soll. Plötzlich legte sie mir die Hand auf den Arm und sah mich mitfühlend an. ›Das tut mir ja so leid mit dem Peter. Ich habe gehört, daß er wieder bei euch wohnt.‹ Sie war nicht die erste, die davon anfing. Wir leben schließlich auf dem Dorf. Sie fragte, was er habe. Ich gab meine Standardantwort: Er ist ein wenig erschöpft, der Beruf, die junge Familie, das kennt man ja. Es hat keinen Sinn darüber zu reden. Es ist eben nicht dasselbe wie ein gebrochenes Bein. Aber sie ließ nicht

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