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Am Schwarzen Berg

Am Schwarzen Berg

Titel: Am Schwarzen Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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lagen in den Durchgängen und Treppenhäusern und zwangen die Kinder, mit angehaltenem Atem Slalom zu laufen.
    Auch an diesem Abend hatte Peter dem Penner nachgestarrt wie einer Erscheinung aus einer anderen Welt. Mia hatte ihn unsanft angestoßen und nach den Kindern gefragt, die in der immer dunkler werdenden Parklandschaft nicht mehr zu sehen waren. Peter winkte lässig ab: »Die Jungs kennt hier jeder. Wir sind wie eine große Familie.«
    Sie preßte die Finger um die harte Spielzeugfigur, bis sie schmerzten. Peter hatte seine Hände unter ihre Bluse geschoben und ihren Hals geküßt. »Ich habe von dir geträumt. Davon, dich hier zu lieben, im Gras, unter diesem Baum und dem Sternenlüfteschwall.« Er roch aus dem Mund nach irgendeiner Grillsoße. Sie hatte ihn weggestoßen und war aufgestanden und gegangen, am Schluß sogar gerannt, voller Ekel und Wut. Erst am nächsten Nachmittag kamen die drei nach Hause zurück. Ivo und Jörn waren voller Zecken. Wie dunkle Warzen saßen sie in den zarten Kniekehlen, auf den Schulterblättern und zwischen den Zehen. Mia hatte darauf bestanden, daß der Kinderarzt sie entfernte. Sie packte die Jungen ins Auto und fuhr zu Dr. Lindenbruch. Nach dem Termin standen sie im Heslacher Tunnel im Stau. Die Kinder schliefen, sie waren total überanstrengt, ihre Köpfe hingen schlaff nach vorne. Mia erzählte Peter, daß der Arzt Bettruhe angeordnet habe. Noch am selben Abend telefonierte sie mit Georg.
    Die Schule würde ihnen dabei helfen, mit der Veränderung umzugehen, allein schon die Tatsache, daß sie den Hort besuchten, den ganzen Tag dort wären, von acht bis siebzehn Uhr. Das war nötig, wenn sie die Vollzeitstelle annehmen wollte, die man ihr in der Sanitas-Akademie angeboten hatte. Endlich. Kein gutes Gehalt, aber sie würde über die Runden kommen. An die Sicherheiten eines Beamtenjobs reichte nichts heran, trotzdem konnte sie froh sein über diese letzte Chance. Der heimliche Auszug aus dem Etzelweg war beklemmend gewesen. Der einzige Moment, in dem Mia Erleichterung verspürt hatte, war, als sie den Karton mit den silbernen Dosen voller Sportlernahrung in die Mülltonne gekippt hatte. Mit blechernem Rasseln waren sie in die stinkende Dunkelheit gefallen. Den Karton hatte sie zu einer flachen Platte zertreten und hinterhergeworfen. Eine reine Verzweiflungstat war das gewesen. Im nachhinein fragte sie sich, wie sie auf diese Anzeige hereinfallen konnte: »Verdienen Sie 3000 Euro und mehr! Sind Sie ehrgeizig, zielorientiert, kommunikationsstark?« Aber das war typisch für sie, die hektisch nach einer Lösung suchte und dabei gegen Wände lief. Erst später war ihr eingefallen, daß die Mutter in der Geislinger Straße eine Zeitlang abends mit glänzenden Augen Kugelschreiber zusammengeschraubt hatte. Mia erinnerte sich noch, wie sie von einem richtig anständigen Stundenlohn sprach. Und so bequem, beim Daheimhocken! Irgendwann standen zwei Männer in der Tür. Viel Gel im Haar, helle Jeansjacken, speichelglänzende Zähne. Es war laut geworden. Materialkosten, Prozeß. Wochenlang hatten sie von Toast und Nudeln mit Tomatenmark gelebt.
    In der Schule ahnten ihre Freundinnen damals nicht, wie schwer sie arbeitete für ihre nicht einmal überragenden Noten. Mia schuftete gegen Vorurteile in Lehrerköpfen an – sie war das dunkelhaarige Kind einer unförmigen Alleinerziehenden und damit eigentlich eine Kandidatin für die Hauptschule. Dazu kam, daß die Mutter an Elternsprechtagen genauso in die Wäscherei oder zu ihren Putzstellen ging wie zu den Hausaufgabenzeiten. Als Mia sich in der Pädagogischen Hochschule einschrieb, Bafög beantragte, war es für die Mutter so, als hätte sie den Wunsch geäußert, zum Mond zu fliegen – sie tat etwas, das eigentlich nicht zu schaffen war.
    Mia war sich sicher, daß es ihr deshalb auch nicht gelungen war, das Referendariat abzuschließen. Sie konnte die Kinder nicht bändigen, ihr fehlte die Sicherheit, sich hinzustellen und die Führung zu übernehmen. Mehrfach war sie vor der Klasse gescheitert, so kläglich, daß sie kaum noch vollständige Erinnerungen an diese Momente hatte. Ein paar Einzelheiten waren geblieben: das Grinsen des Drittkläßlers in der vordersten Reihe, der Essiggeruch der Folienstifte, mit denen sie die Kartoffelpflanze vierfarbig aufgemalt hatte, ihr eigenes Stammeln und Stottern, der steigende Lärmpegel in der Klasse, das Brennen ihrer Handballen, in die sie die Fingernägel gegraben hatte, und die flüsternd

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