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Am Schwarzen Berg

Am Schwarzen Berg

Titel: Am Schwarzen Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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Arbeitgeberinnen kannte keine Grenzen. Oft lief sie abends durch die winzige Wohnung in der Geislinger Straße, fuhr mit dem Finger über eine Schranktür, klappte die Klobrille hoch und sagte: »Bei mir kann jeder reinkommen, hier stinkt’s net, hier bäppt’s net. Die hen Geld, aber Drecksäu, Drecksäu!« Aus tiefster Überzeugung nahm sie bei ›ihren Damen‹ nie etwas zu essen an. Das höchste der Gefühle waren eine Tasse Kaffee oder ein Glas Wasser. Mit einem angewiderten Seitenblick verschmähte sie die gönnerhaft angebotenen Eßwaren, wenn diese schon angebrochen waren, nahm höchstens Konserven mit nach Hause. So bewahrte sie ihre Würde und schuf sich bei ihren nichtsahnenden Arbeitgeberinnen den Ruf einer integren, genügsamen Person, einer ›Perle‹.
    Schon immer hatte Mia bei Besuchen geklaut, systematisch und erfolgreich, wie ein diebisches Tier. Was die Mutter in den Wohnungen ihrer Damen mit Todesverachtung vermied (›Ehrliche Frau, dt., sucht Putzstelle‹), trieb Mia bei Schulfreundinnen, Kaffeeeinladungen, im Müttertreff und bei Peters Familie zur Perfektion. Sie entwendete Parfüm, Kosmetika, Schmuck, Wäsche, Nippes, Bücher und Schreibgeräte und hatte die Frechheit, ihrem Opfer ins Gesicht zu sagen: »Wie lustig, ich hab genau das gleiche!« oder »Ich hab mir das auch gekauft, als ich es bei dir gesehen habe, weil es mir so gut gefallen hat.« Nie wurde sie auch nur verdächtigt. Sie stahl Veronika eine silberne Pillendose und Carla eine Tube teure Nachtcreme aus dem Reformhaus. Ihr wütendes Zusammenraffen hörte erst auf, als Ivo geboren wurde. Der Etzelweg war eine Verheißung gewesen, drei Zimmer, der erste Garten, die Möglichkeit, sich zu entwickeln.
    Mia ließ die Küchentür einen Spaltbreit offen, falls die Katze später durch das stille Haus streifen wollte. Die Jungen gerieten jedesmal in Entzücken, wenn das Tier sich nachts unter ihre Decken wühlte. Nach den Fischen im Etzelweg hatten sie bis jetzt kein einziges Mal gefragt. Es war alles so schnell gegangen. Peter und die Kinder waren ihr stets wie ein dreiköpfiges Wesen erschienen, fest zusammengewachsen durch ihr Geschlecht, durch die ungeheuren Mengen an Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, durch die Energie, die Peter darauf verwandt hatte, Ivo und Jörn auf seine Seite zu ziehen. Denn das waren sie, immer auf seiner Seite. Nicht bereit, von ihrer Mutter auch nur einen Vorschlag anzunehmen.
    Sie war selten mehrere Tage lang mit den Jungen allein gewesen. Manchmal hatte Peter Fortbildungsseminare besucht oder war mit Freunden zum Wandern in den Schwarzwald gefahren. Ivo und Jörn erwarteten ihren Vater dann jedesmal ungeduldig zurück. Mia wußte, daß sie sich ihre schwache Position im Familiengefüge selbst zuzuschreiben hatte. Von Anfang an hatte Peter die Führung übernommen, mit einer Selbstverständlichkeit, als sei er es gewesen, an dessen Brust die Kinder getrunken hatten. Mia mußte das akzeptieren. Was konnte sie diesen Wesen schon Wertvolles mitgeben, sie, Mia, drei Buchstaben aus einem blöden Song, Geislinger Straße, dritter Stock links?
    Jetzt, in Trarego, staunte sie Tag für Tag, wie leicht es ihr fiel, mit Ivo und Jörn umzugehen. Sie gehorchten aufs Wort. Widerspruchslos putzten sie sich die Zähne, halfen beim Tischdecken und gingen zur verabredeten Zeit ins Bett. Alles, was im Etzelweg schwergängig gelaufen war, begleitet von Diskussionen und Protesten, funktionierte hier wie von selbst. Sie fragten nicht nach Peter. Es schien so, als habe die Wucht ihrer Geschichte sie schweigsam gemacht, ihnen alle Fragen ein für allemal ausgetrieben. Mia hatte rasch gehandelt, fast wie im Traum, und wie im Traum war alles, was noch vor ein paar Monaten unverbrüchlich gefestigt zu sein schien, in unglaublicher Geschwindigkeit davongeglitten und auseinandergefallen.
    Am Fuß der Treppe tastete Mia nach dem hölzernen Handlauf, stieg vorsichtig die Stufen hoch. Aus dem Kinderzimmer konnte sie die regelmäßigen Atemzüge der Jungen hören. Mondlicht fiel durch die Fenster, es roch nach Bettfedern und Kinderschweiß. Auf dem Boden lagen Stapel von Disney’s ›Lustigen Taschenbüchern‹ und ein aufgeschlagenes Märchenbuch, dazwischen muskelbepackte Kämpfer aus Plastik, einer davon mit grünem Skelettkopf. Ivo hatte sich freigestrampelt. Sein magerer weißer Hintern ragte in die Luft. Sie zog ihm die Pyjamahose hoch und deckte ihn zu, befühlte das Laken, das zum Glück trocken war. Er hatte

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