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Am Schwarzen Berg

Am Schwarzen Berg

Titel: Am Schwarzen Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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zusammengesteckten Köpfe der beiden hospitierenden Prüfer und ihrer Fachbereichsleiterin. Sie wäre knapp durchgekommen, hätte sie nicht geschmissen. Am bittersten war das verständnisvolle Lächeln auf dem Gesicht jener älteren Lehrerin gewesen, die ihr die Hand auf die Schulter gelegt und mit warmer Stimme gesagt hatte: »Ich bin so froh, daß Sie selbst es sind, die diese Entscheidung trifft.« Vor Erwachsenen fürchtete sie sich nicht. Die wollten ja lernen, waren höflich, statteten Mia von Anfang an mit jener Autorität aus, die man sich bei den Kindern erst erarbeiten mußte. Daß sie nach jahrelanger Tätigkeit als Mädchen für alles und nach endlosen Fortbildungen in der Sanitas-Akademie wieder zu unterrichten begonnen hatte, empfand sie als Glück. Auf der Homepage des Instituts stand neben ihrem Foto: Maria Müller, Pädagogin ( PH ). Dozentin für Linguistik, Rhetorik und Techniken des Lernens.
    In der Dunkelheit vor dem Fenster riefen die Käuzchen, heisere, bellende Schreie, hinter denen Mia ohne Georgs Belehrung nie Vögel vermutet hätte. Die Kinder warteten jeden Abend ungeduldig darauf, ihre plumpen Umrisse durch die blaue Luft huschen zu sehen. Wenn sie morgen früh erzählte, daß sie sie gehört hatte, würden sie mit den Füßen aufstampfen: »Verdammt, warum schlafen wir immer vorher ein!«
    Beide Kinder würden in dieselbe Schule gehen, jeder in eine andere erste Klasse, sie waren nur ein Jahr auseinander. Der gemeinsame Schulweg, das Zusammentreffen in den Pausen konnte Sicherheit geben. Mia war begeistert gewesen von der Ernsthaftigkeit, mit der die Jungen an den Tests teilgenommen hatten, die man ihnen in Gesundheitsamt und Grundschule vorgelegt hatte: ein Bild malen, Zahlen erkennen und Würfelpunkten zuordnen, komplizierte Sätze nachsprechen. Wie eifrig sie sich bemüht hatten, alles schnell und sauber zu erledigen. Keine Spur von Träumerei, kein Getrödel. Als ahnten sie, daß der neue Weg eine Gelegenheit war, die sie dankbar annehmen mußten. Peter hatte Ivo vor einem Jahr, als der Brief der staatlichen Grundschule aus Heslach kam, mit Hilfe von Kinderarzt und Erzieherinnen noch ein Jahr zurückstellen lassen. Ein ›Kann-Kind‹, das erst im September sechs wurde, durfte noch ein Jahr im Kindergarten bleiben. Mia war das nicht recht gewesen, aber sie hatte sich gefügt. Peters Autorität in Bildungsfragen übertraf ihre Pädagogikstudium. »Es ist einfach viel zu früh! Du bist doch das beste Beispiel dafür, daß in diesen Seelenknästen alles kaputtgemacht wird. Ich werde die Jungs da nicht hinschicken.« Er hatte über Privatunterricht zu Hause nachgedacht, Infos aus dem Internet gezogen, alles, was nach Leistung roch, Rätselblöcke, Übungsbücher, aus dem Etzelweg verbannt und sich mit den Erzieherinnen im ›Hasenhäusle‹ angelegt, als dort Vorschulmaterial ausgeteilt worden war.
    Die Atemzüge der Kinder waren wieder ruhig und regelmäßig. Mia schlich aus dem Zimmer. Ein Legostein bohrte sich in ihre nackte Fußsohle, und sie trat noch fester darauf, um zu spüren, wie der Schmerz zu ihren Haarwurzeln hochschoß. Tränen liefen ihr über die Wangen. Im Türrahmen blieb sie stehen, konnte nicht aufhören, Ivos Armbeuge anzustarren, in der sein alter, grauer Bär jetzt kopfüber eingeklemmt hing, und Jörns runde Backe, auf der eine Locke klebte. Das Verlangen, sie abzuküssen, sich zu versichern, daß es ihnen gutging, war ungeheuer. Sie drehte sich hastig um und verließ den Raum.
    Im Flur schaltete sie die Lampe ein. Auf einem geschnitzten Tischchen lagen verstaubte Hortensienblüten in einer Porzellanschale, darüber sah sie ihr Gesicht im Spiegel und verharrte einen Augenblick. Natürlich fragte sie sich, ob es auch nur einen Moment gegeben hatte, der ihr das Recht zu alldem einräumte, das Recht, das dreiköpfige Tier auseinanderzureißen, dessen Einzelwesen jetzt jaulend und einnässend die Nächte durchheulten. Das Recht, die erstbeste Gelegenheit beim Schopfe zu packen und zu verschwinden. Vielleicht war es ja nicht die erstbeste, sondern die letzte Gelegenheit. Wie alt war sie? Wie lange würde ihr noch jemand seine Hilfe anbieten, nur weil er sie niedlich fand? Wie viele Vollzeitstellen würde man ihr noch hinterherschmeißen? Und Hilfe hatte sie gebraucht, allein wäre sie niemals mutig genug gewesen, zu gehen, nicht mit den Jungs zusammen.
    Georg hatte ihr geholfen, die Schule für die Kinder zu finden. Für alles, worüber sie sich nächtelang den Kopf

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