Am Schwarzen Berg
auf die Terrasse. Die Müdigkeit war verschwunden. Es hatte keinen Zweck, jetzt im Bett zu warten, bis der Morgen graute und die Kinder sich regten. Sie würden unter ihre Decke kriechen und die kleinen, harten Füße, eiskalt vom ersten Lauf durch das taufeuchte Gras, gegen Mias nackte Oberschenkel pressen. Wenn sie laut kreischte, kicherten sie. Sie kreischte so laut wie möglich, nur um zu wissen, daß sie sie zum Lachen bringen konnte. Sie drückte die Zigarette in Georgs blattförmigem Aschenbecher aus und zündete sich sofort eine neue an. Georg rauchte selten, meistens Zigarillos. Sie lachte über sein genießerisches Gepaffe, hoffnungslos verdorben von den Gepflogenheiten der Geislinger Straße. Wer dort nicht auf Lunge rauchte, war eine Memme.
Mia mußte husten, der Tabak schmeckte strohig und bitter. Sie sah auf die schwarzen Berge, die gelben Punkte der Straßenbeleuchtung, den purpurbraunen Nachthimmel. Auch wenn sie versuchte, an Georg zu denken, sah sie statt dessen Peter. Er stand im Etzelweg vor dem Haus und erlebte das Ende jener Geschichte, die sie den Kindern ein paar Tage zuvor erzählt hatte. Unrasiert und in einem schmutzigen T-Shirt, hatte er so verkommen ausgesehen, daß sie einen Moment lang versucht gewesen war, alles rückgängig zu machen. Ihre Wut kam zurück, als er zu reden begann. »Was tust du den Kindern da an!« Sie ging in die Wohnung und nahm die letzten Unterlagen aus der häßlichen ledernen Dokumentenmappe, die Carla ihnen einmal zu Weihnachten geschenkt hatte. Sie brauchten ja Ausweise, wenn sie nach Italien fuhren, Geburtsurkunden für die Einschulung. Peter schrie schließlich sogar, und sie brüllte zurück. »Wie kommst du dazu, ihnen dein Penner-Leben zuzumuten! Sie haben was Besseres verdient, und ich auch!« Die Kinder blieben auf der Rückbank. Wie still sie da gesessen hatten. Es war ein Wunder, ein schreckliches Wunder, vollbracht von ein paar Sätzen.
Sie schloß die Verandatür und ging ins Schlafzimmer. Durch das Oberlicht schien der Mond. Aus dem faden Grau des Zimmers traten die Deckenbalken und der bauchige Umriß der Kommode hervor. Die Gitter des Eisenbetts warfen verschlungene Schatten. Mia setzte sich auf die Bettkante und lauschte der höhnischen Frage des Raumes: Was willst du denn hier? Sie versuchte, sich etwas vorzustellen, das ihr keine Angst machte. Den neuen alten Job. Ivo und Jörn als Erstkläßler. Georg.
Georg war Redakteur bei einem regionalen Fernsehsender. Sie hatten sich kennengelernt, als er eine Sendung über Weiterbildung im Gesundheitswesen gedreht und dafür die Sanitas-Akademie besucht hatte. Mia war überrascht gewesen, wie kurz der Film geworden war, den sie schließlich im Nachtprogramm zu sehen bekam. Für diese wenigen Minuten hatten Kameraleute und Techniker tagelang in den Räumen am Feuersee herumgehangen, redend, kaugummikauend und telefonierend. Georg war ihr von Anfang an aufgefallen, weil er sich kleidete wie ein englischer Graf aus einer Vorabendserie. Mia hatte zuerst nur auf seine karamellfarbenen Lederschuhe mit den silbernen Schnallen geachtet, auf die karierten Hosen und das Tweedjackett mit senfgelbem Seidenfutter. Er schien nichts zu tun außer herumzustehen, Kaffee zu trinken und gelegentlich mit den Kameramännern Witze zu reißen. Langsam schlenderte er durch die Gänge, redete und fuchtelte dabei mit seinen großen Händen. Ständig kam er in Mias Büro, lehnte sich mit dem Hintern an ihren Schreibtisch, nahm Stifte von der Tischplatte, drehte sie zwischen den Fingern, las Papiere laut vor, telefonierte zwischendurch und stürzte wieder hinaus. Am zweiten Tag gingen sie zusammen Mittagessen. Danach liefen sie beide allein um den Feuersee und zur Johanneskirche, deren spitzenloser Turm wie geköpft aus den Baumwipfeln ragte.
Georgs Gesicht war groß und flächig, die Augen lagen tief in den Höhlen, darüber wuchsen struppige Brauen. Das dichte Haar war von grauen Strähnen durchzogen, und auch seine Haut wirkte grau. Der Mann mit dem Steingesicht hatte ihn Fred, der Ergotherapie-Dozent, scherzhaft genannt. Georgs Züge wirkten tatsächlich starr und unbeweglich. Das einzig Lebendige war der Mund, ein breiter, scharf konturierter Mund mit vollen Lippen, der ständig redete, lachte, sich spöttisch verzog und auf den Mia öfter sah als in Georgs Augen, die sein Gegenüber nie fixierten, hellgrau und stumpf waren wie der Zinnbecher voller Kugelschreiber auf ihrem Büroschreibtisch. Als die Filmerei vorbei war,
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