Am Schwarzen Berg
scharfen Schnitt? Kommt zu mir, bei mir ist Platz.« Ja, das konnte man sagen. Platz zum Liegen. Allein sein Bett – größer als unser ganzes Schlafzimmer.
In der stickigen Luft des Kinderzimmers schüttelte Mia heftig den Kopf. Sie verzog den Mund und biß sich auf die Lippen. Diese Nächte im Schloßgarten, zu denen Peter die Kinder mitgeschleppt hatte, waren der Gipfel gewesen. Einmal hatte sie die drei dort besucht, aus Sorge. Vielleicht auch, um ein letztes Mal guten Willen zu zeigen. Was sie dort sah, hatte sie entsetzt. Ivo und Jörn hingen Grashalme und vertrocknete Schlammbröckchen in den Haaren, ihre Gesichter waren dreckverklebt. Die Jungen glichen ihr auf fast schon lächerliche Weise, dunkelhaarig, lockig, zimthäutig, Keloglan pur. Es war leicht, sich einzureden, daß sie allein ihr gehörten. Sie rannten unentwegt zwischen diesen ganzen Verrückten, diesen Baumanbetern, Hippies, Punks und Pennern herum. Aus dem zertretenen Rasen wuchsen schiefe Behausungen, die grausige Parodie einer Stadt. Durch das ganze Chaos wandelte Peter, den hier jeder zu kennen schien. Mia hatte über die vielen älteren Leute gestaunt. Die meisten machten einen gesetzten, behüteten Eindruck, wohlfrisiert, gut gekleidet, als seien sie Verirrte in diesem bizarren Narrendörfchen. Erst die grünen Anstecker enttarnten sie. Auch Hajo und Carla hätten durchaus hier sein können. Emil sah sie nicht, obwohl er nur zu gut in diese Welt gepaßt hätte, torkelnd und Gedichte rezitierend, dieser Flaschengeist. Wahrscheinlich hatte er Peter den ganzen Schwachsinn eingeredet. Mia hatte ihre Provianttasche vor den Kindern abgesetzt, die sie nicht ohne Begeisterung begrüßt hatten, aber sofort wieder davongerannt waren. Sie war verwundert darüber gewesen, so viele Kinder, sogar Babys, um diese Uhrzeit im Park zu sehen.
Sie bückte sich nach den Plastikfiguren auf dem Fußboden und tastete über die wutverzerrten Gesichter der kleinen Kämpfer. Masters of the Universe. Sie konnten nur wenig jünger sein als Mia und dünsteten immer noch einen schalen Plastikgeruch aus. Peter war plötzlich auf sie zugekommen und hatte sie umarmt. Er war erhitzt und roch rauchig. Mia erinnerte sich, wie widerlich sie die winzige blutverkrustete Verletzung an seinem Mundwinkel gefunden hatte. Sie machte sich von ihm los und trat einen Schritt zurück. Seine Jeans waren fleckig. Sie hatte den Eindruck, es liege ihm etwas daran, sie zu besudeln, seinen Schmutz wie ein Brandzeichen auf ihrer Kleidung zurückzulassen. Sie mußte sich kurz setzen, weil ihre Füße vom langen Stehen vor der Klasse geschwollen waren und schmerzten. Der Stamm der ungeheuren Platane, unter der sie sich niederließ, war dick umwickelt mit pfauenblauer Seide. In den Ästen über ihr raschelten Transparente. Überall brannten Kerzen und Laternen, mehrere Feuer flackerten in der Nähe. Mia sah nach oben und erkannte das dickliche Brillengesicht Eduard Mörikes, darunter Peters schwarze Druckschrift, schimmernd unter der Laminierung: »Ah, Sternenlüfteschwall wie rein / Mit Haufen dringet zu mir ein!« Trommelschläge hallten durch die Dämmerung, begleitet von Grilldunst. Weitere Verse schwangen über ihr in der von Insekten durchschwirrten Luft. Peter war ihrem Blick gefolgt, und Mia hatte schnell weggesehen. Einen Vortrag über Mörike hätte sie jetzt nicht ertragen. Unter dem Nachbarbaum schlüpfte ein jugendliches Pärchen umständlich in einen knisternden roten Schlafsack. Ein riesiger, bärtiger Mann mit Rucksack und Knotenstock stapfte an ihnen vorbei. Unter der Platane riß er den Arm hoch und zeigte auf die vom Abendwind bewegten Plakate. Seine Stimme trug weit: »Mein Herz, o sage, / Was webst du für Erinnerung / In golden grüner Zweige Dämmerung? / – Alte unnennbare Tage!« Mia hatte sich gereizt abgewandt und den Kopf geschüttelt. Sie haßte diese Typen, ihren Gestank, aus dem sie all die Schrecklichkeiten anwehten, die passieren konnten, wenn man sich nicht zusammenriß, der schmutzige Atem von Armut und Versagertum.
Peter war in dieser Hinsicht naiv. Er unterhielt sich am Marienplatz und in der Böblinger Straße dauernd mit diesem Abschaum, ließ sich das Geld aus der Tasche ziehen, glaubte sogar die Geschichten, die sie ihm aufbanden. Immer waren die anderen schuld, die Frauen, die sie verlassen hatten, die lieblosen Eltern. In der Geislinger Straße hatte es viele Alkoholiker gegeben, die schon morgens zwischen den Blocks herumschwankten. Ihre Exkremente
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