Am Schwarzen Berg
plötzlich angefangen, einzunässen, was Mia ungeheuer peinlich war. Die Matratze wurde eingeschäumt und in die Sonne gelegt. Ivo führte sie eine Stunde nach dem Einschlafen noch einmal auf die Toilette, wo er leise jammernd pinkelte. Sie mußte vor ihm stehen und ihn stützen, damit er nicht von der Schüssel fiel. Er schlief im Sitzen weiter und drückte sein heißes Gesicht gegen ihre Beine. Jörn lag auf dem Rücken, sein Mund stand offen, er schnarchte leise. Sein dunkles Haar war naß, Wimpern und Wangen salzig verkrustet. Als sie die beiden streichelte, bewegten sie sich ächzend und schlugen blind ihre Hand weg. Sie waren den ganzen Tag draußen gewesen, hatten im Garten gespielt, das Dorf erkundet, die engen Gassen und hohen Mauern, an denen überall Eidechsen saßen, das kühle, steinerne Waschhaus, durch das der Bach aus den Bergen rann. Nach dem Mittagessen durften sie sich im einzigen Lokal des Ortes ein Eis holen. Die alten Männer auf der Bank am Eingang winkten ihnen bereits zu. Beide Kinder hatten schon ein paar Worte Italienisch gelernt und waren stolz, wenn ihr Gruß erwidert wurde und es ihnen gelang, alles einzukaufen, was Mia ihnen auftrug.
Mia bückte sich, sammelte die Bücher auf und stellte sie in ein Regal. Sie griff daneben, der Stapel löste sich und polterte zu Boden. Beide Jungen regten sich heftig, Ivo stöhnte laut. Jörn warf sich herum. Sie hörte das mahlende Knirschen seiner Zähne. Keiner wachte auf. Mia blieb starr in ihrer Ecke stehen und wartete, bis die Körper unter den dünnen Laken wieder still wurden.
Die Geschichte für Ivo und Jörn war ihr eingefallen, als sie im Etzelweg die wenigen Kartons packte: den Schnellkochtopf, das gelbe Geschirr, ein Fotoalbum. Ein Bild flatterte zu Boden. Gartenfest, Peters Geburtstag. Menschen, die mit Bierflaschen in der Hand auf der Wiese standen. Ein strahlender Peter, umringt von Veronika und Emil, Hajo und Carla. Auch Eva stand dabei, blond und schlank in einem blauen Sommerkleid.
Es war Mia immer leichtgefallen, sich Geschichten auszudenken. Sie liefen aus ihr heraus wie Wasser. Zu allen Zeiten waren sie nötig gewesen, um zu erklären, zu helfen, zu schmücken: Sie erzählte von ihrem Vater, der in der Türkei am Meer ein großes Hotel hatte, in dem sie jeden Sommer umsonst wohnen durfte, und der vieles schickte, was man nur dort kaufen konnte: die verwaschenen, schlechtsitzenden Sachen, die ihre Mutter aus der Rotkreuz-Kleiderkammer bekam, die bunten Plastikarmreifen, Haarspangen, T-Shirts und Lamy-Füller, die Mia bei ihren Raubzügen stahl. Für ihre Söhne hatte sie sich kurz gefaßt. Oft waren die kurzen Geschichten die besten. Sie bohrten sich ohne Umschweife ins Gedächtnis und blieben dort haften. Der Papa hat sich in eine andere Frau verliebt und möchte uns nicht mehr haben. Er hat gesagt, wir sollen Platz machen und weggehen, damit sie hier einziehen kann. Er hat uns nicht mehr lieb, nur noch diese andere Frau. Aber ihr müßt keine Angst haben, ich habe schon ein neues Zuhause für uns gefunden. Wir halten zusammen, wir drei. Folgsam hatten sie ihr beim Packen geholfen, fast apathisch ihre Habseligkeiten zusammengesucht. Viel hatten sie ja nicht. Spielzeugfrei macht den Kopf frei, noch so ein Spruch. Nur um das Aquarium hatte es ein Riesentheater gegeben. Mia hatte schließlich einen Zettel für die Steidles geschrieben, bitte füttern, den sie später in der Handtasche verschwinden ließ. Peter war im Park gewesen, der sture Hund. Ein Aktionscamp über mehrere Tage. Sitzblockadentraining. »Ich muß jetzt Flagge zeigen, das ist wichtig. Die brauchen mich dort.«
Der Auszug aus dem Etzelweg war ursprünglich Georgs Idee gewesen. Nein, das war gelogen. Es war ihre Idee. Seit Jahren schon. Ach was, Jahre. Doch, seit mindestens zwei Jahren. Die ständigen Streitereien um seine mangelnde Bereitschaft, Pläne zu machen, voranzukommen, raus aus Heslach. Etwas aufzubauen. Sich neu zu bewerben, in einer Klinik zum Beispiel. Nebeneinkünfte zu finden. Die Kinder besser zu fördern. Ganz sicher war sie sich seit April. Seit der Sache mit seiner vollen Stelle. Mit der Teilhaberschaft an Evas Praxis, die er einfach abgelehnt hatte. Aber ohne Georg wäre sie nicht ausgezogen. Er hatte den letzten Anstoß gegeben. Alleinerziehend wollte sie nicht sein. Das kannte sie. Das wollte sie nicht für die Kinder. Georg hatte es möglich gemacht. »Wenn dein Lebensgefährte ein solcher Luftikus ist, warum machst du dann nicht einen
Weitere Kostenlose Bücher