Am Schwarzen Berg
zerbrach, fand er in kürzester Zeit eine Lösung. Durch seine Arbeit kannte er Unmengen von Leuten. Er zeigte ihr diese wirklich fortschrittliche Grundschule, konfessionell, daher auch nicht unbezahlbar. Für Mia als Alleinerziehende würde es Ermäßigung bei den Gebühren geben. Georg wußte Bescheid über Musikunterricht und Frühenglisch, über die besten Sportvereine, Nachmittagsbetreuung, Jugendkunstschule, alles, was Peter ablehnte. Georg war selbst Vater und hatte es geschafft, seinen Sohn einigermaßen unbeschadet durch die Scheidungsquerelen zu bringen. Willi war zum Studium in die USA gegangen und arbeitete jetzt als Physiker in Boston. Sie hatte ihn noch nicht kennengelernt. Auf den Fotos in der Bismarckstraße lächelte ein großer junger Mann mit rasiertem Schädel und Georgs Augen.
Der Silberrahmen des Spiegels war angelaufen. Fliegendreck saß auf dem Glas, schwarze Male auf ihren Lippen, ihrer Stirn. Morgen putze ich dich, dachte Mia.
Jeden Tag putzte sie ein Stück des Hauses. Bei ihrer Ankunft hatten tote Insekten auf den Fensterbänken gelegen. Sand und Blätter wehten über die Dielen. Spuren der langen Monate, in denen niemand hereinkam außer der alten Nachbarin, die lüftete und die Heizung prüfte. Mia wischte, fegte und scheuerte. In dem kleinen Alimentari an der Hauptstraße hatte sie mehrere Flaschen Putzmittel gekauft, wahllos gegriffen, was stark aussah. Die Schönheit der Räume trat durch die Sauberkeit noch klarer hervor, und Mia hatte das Gefühl, sie könnte auf diese Weise etwas von sich selbst zurücklassen. Was für ein Gedanke! Verächtlich blickte sie auf ihr Spiegelbild, wellig und clownhaft in dem alten Glas, nackte braune Schultern, ein weißes Leinenkleid, die goldene Kette mit dem Anhänger. Die Perle in der schweren Schale klebte in der feuchten Grube zwischen ihren Schlüsselbeinen. Grüne Seifenreste unter den Fingernägeln, ein Trick der Mutter. Immer die Hand in die Seife krallen, das schützt. Ihre Zunge war purpurn vom Wein.
Die Mutter trug zum Putzen einen ärmellosen rosengemusterten Kittel. Sie brachte den Kittel und ihre Schuhe, flache Plastiklatschen mit geriffelter Sohle, in einer großen Umhängetasche mit Katzengesichtern von zu Hause mit. Außerdem eine orangefarbene Dose, die einmal Vanilleeiscreme enthalten hatte. Darin waren Toasts mit Margarine und Zucker. Die Mutter hatte immer Vesperbrote dabei. Diese Brote aß sie mit Mia in der Küche oder, wenn es nicht gerade regnete und sehr kalt war, auf dem Balkon. Alle Wohnungen, in denen die Mutter putzte, hatten einen Balkon. Dann zog die Mutter Mia den Reißverschluß am Anorak bis zum Kinn hoch. Sie selbst rauchte und biß zwischendurch riesige Stücke ab. Der Zahnabdruck stand in der bleichen Fettschicht, das körnige Knirschen des Zuckers vermischte sich mit dem stechenden Geschmack der Margarine, die noch stundenlang am Gaumen klebte. Die Mutter war dick, ihre Arme von gänsehäutigem Fleisch beladen, die verhornten Ellbogen weißlich abgerieben, das schlechtgefärbte, kurze Haar fettig, die Nylonstrumpfhose zerrissen. Der gelbe Ring um die Fersen, die rauhen Knöchel über dem einschneidenden Rand der Schuhe. Die kleinen braunen Augen, die geäderten Wangen. Die blauroten, von Putzwasser aufgeweichten Hände. Ein starker Schweißgeruch ging von der Mutter aus. Eingehüllt in diesen Geruch, fuhren sie nach Hause. In der überheizten Straßenbahn sah Mia meist aus dem Fenster. Oft war es schon dunkel, die gepflegten Gartenstraßen der Halbhöhenvillen, aus denen sie kamen, verschwanden schnell: Im Schellenkönig und Heidehofstraße, Gänsheide und Gerokstraße, Steingrübenweg und Im unteren Kienle. Die Linie 9 brachte sie zurück nach Wangen. Sie sah den roten Lichterkranz über der grauen Riesentonne des Gaskessels schweben, die verschwommenen Schaufenster von ›Stilmöbel Nau‹ in der Hackstraße, voll mit dünnbeinigen, vergoldeten Tischen, Stühlen und Spiegeln, die menschenleere Schwärze in den niedrigen, langgestreckten Gebäuden des Schlachthofs, wo am Morgen noch Rinder und Schweine als blutige Hälften an mächtigen Metallhaken herumgeschoben worden waren. Die Bremsen quietschten, Mia stützte den Arm auf das Tischchen mit dem tanzenden, grauweißen Karomuster. Irgendwann sackte sie gegen die Mutter, die sonst so selten Berührungen gestattete, dann aber den Arm um das erschöpfte Kind legte, das auf dem klebrigen, leberfarbenen Plastiksitz einschlief.
11 Mia trat mit ihrer Zigarette
Weitere Kostenlose Bücher