Am Seidenen Faden
als wollte sie ihn beschweren, und machte keinerlei Anstalten, eines der Hefte zu öffnen. Ich musterte sie kurz und fand, sie sähe gut aus. Ihr Gesicht hatte eine gesunde Farbe, ihre dunklen Augen hatten Glanz, ihr graues Haar wirkte gepflegt. Sie schien in guter Stimmung zu sein. Niemand war dabei, Verschwörungen
gegen sie anzuzetteln, niemand verfolgte sie, alles sei ganz »prächtig«, hatte sie auf der Fahrt in die Stadt verkündet und dann nichts weiter von sich gegeben als die Frage, wie es den Mädchen gehe. Die allerdings hatte sie mindestens fünfmal wiederholt.
»Mama, willst du dir nicht eine von den Zeitschriften ansehen?« Ich griff unter ihre Hände, zog die jüngste Ausgabe der Elle heraus und schlug sie auf. Ein Sortiment nackter Busen in einer höchst erstaunlichen Vielfalt an Größen und Formen sprang uns förmlich entgegen.
»Ach, du lieber Gott«, sagten meine Mutter und ich fast wie aus einem Mund. Ich blätterte gleich weiter. Noch mehr weibliche Brüste. Einige notdürftig verhüllt, andere schlicht nackt. Und so ging es weiter. Brüste hier und Brüste dort, nichts als Brüste immerfort, sang ich lautlos vor mich hin, während ich rasch die ganze Zeitschrift durchblätterte. Ein schier unerschöpfliches Reservoir, wie es schien.
Was die elegante Frau heute trägt, dachte ich und wandte meine Aufmerksamkeit den Formularen zu, die die Sprechstundenhilfe uns mitgegeben hatte. Ich begann sie auszufüllen. Name, Adresse, Telefonnummer, Geburtsort und Geburtsdatum. »Mama, wann bist du geboren?« fragte ich, ohne zu überlegen, und hätte die Frage am liebsten sofort wieder zurückgerufen. Sie hatte Mühe, sich zu erinnern, was sie zum Frühstück gegessen hatte, wie sollte sie da ihr Geburtsjahr im Kopf haben?
»Am achtzehnten Mai neunzehnhunderteinundzwanzig«, sagte sie mühelos.
Es machte mich richtig glücklich, daß meine Mutter sich an ihr Geburtsdatum erinnerte. Vielleicht stand es doch nicht so schlimm um sie, versuchte ich mich zu trösten, obwohl ich wußte, daß Menschen, die an der Alzheimerschen Krankheit leiden, sich häufig ohne Probleme selbst an kleinste Details aus ihrer fernen Vergangenheit erinnern. Es war das Kurzzeitgedächtnis, das sie verließ. Ach was, sagte ich mir, dem Kurzzeitgedächtnis wird viel zuviel Bedeutung beigemessen, und versuchte es mit
einer nächsten Frage. »Bist du gegen irgendwelche Medikamente allergisch?«
»Nein, aber gegen Heftpflaster bin ich allergisch.«
»Gegen Heftpflaster?«
Sie neigte sich zu mir, als beabsichtige sie, mich in ein Geheimnis einzuweihen. »Es kam erst nach Jo Lynns Geburt heraus, nach dem Kaiserschnitt.« Sie lachte. »Der Arzt hat mir den Bauch mit ganz normalem Heftpflaster verklebt, damit die Naht nicht wieder aufplatzen konnte. Niemand hat sich was dabei gedacht, bis ich ein paar Tage später einen fürchterlichen Juckreiz hatte. Als sie das Pflaster abnahmen, entdeckten sie, daß mein ganzer Bauch rot entzündet war. Es war wirklich schrecklich. Ich hab gedacht, ich muß sterben, so hat es gejuckt. Und die Ärzte konnten auch nicht viel dagegen tun, außer daß sie mir die Haut mit Cortisoncreme eingeschmiert haben. Es hat Monate gedauert, bis die Entzündung verschwunden war. Ich hab so häßlich ausgesehen, mit dieser Riesennarbe und den dicken roten Striemen überall. Dein Vater fand es abstoßend.«
Seit Monaten hatte ich meine Mutter nicht mehr so viel reden hören, und ich konnte trotz der Erwähnung meines Stiefvaters nicht umhin zu lächeln. »Denkst du viel an ihn?« fragte ich.
»Ich denke immer an ihn«, antwortete sie. Ich war überrascht, wenn ich auch nicht weiß, warum. Sie war vierzehn Jahre lang mit diesem Mann verheiratet gewesen, hatte ein Kind mit ihm gehabt, war regelmäßig von ihm halb zu Tode geprügelt worden, war es da ein Wunder, daß er noch immer in ihren Gedanken war? Hatte ich nicht dreißig Jahre lang an meinen Erinnerungen an Robert festgehalten?
»Er war ein sehr gutaussehender Mann«, fuhr sie ohne Aufforderung fort. »Groß und auffallend und unglaublich komisch. Deinen Humor hast du von ihm, Kate.«
Erst da merkte ich, daß sie von meinem Vater sprach und nicht von Jo Lynns. »Erzähl mir von ihm«, sagte ich, zum Teil, weil ich sehen wollte, woran sie sich noch erinnerte, vor allem aber weil ich plötzlich danach lechzte, etwas von ihm zu hören, gerade so
als wäre ich ein kleines Mädchen, das von seinem schönen und tapferen Vater hören wollte, der ausgezogen war, um
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