Am Seidenen Faden
Sekunden später meldete sich die Stimme wieder. »Tut mir leid, eine Rita Ketchum kann ich nicht finden«, sagte die Frau. »Haben Sie die Adresse?«
»Nein, aber wie groß ist Brooksville denn? Da kann es doch nicht viele Ketchums geben.«
»Ich habe einen Thomas Ketchum in der Clifford Road.«
»Gut«, sagte ich.
Über Band wurde die Nummer durchgegeben und direkte Durchwahl angeboten. Ich nahm an. Ich war so aufgeregt, daß ich meinen Fingern nicht traute.
Das Telefon klingelte einmal, zweimal. Angenommen, es war die richtige Nummer, was wollte ich zu Rita Ketchum sagen? Hallo, ich habe gehört, daß Sie Colin Friendly alles beigebracht haben, was er über die Liebe weiß?
Beim vierten Läuten meldete sich jemand. »Hallo«, sagte eine junge Frau. Im Hintergrund hörte ich ein Baby schreien.
»Spreche ich mit Rita Ketchum?« fragte ich.
Die Stimme wurde mit einem Schlag mißtrauisch. »Wer spricht denn da?«
»Mein Name ist Kate Sinclair. Ich rufe aus Palm Beach an. Ich würde gern mit Rita Ketchum sprechen.« Es blieb still. Nur das Baby im Hintergrund weinte weiter. »Hallo? Sind Sie noch da?«
»Meine Schwiegermutter ist nicht hier. Darf ich fragen, worum es geht?«
»Ich möchte sie gern etwas fragen«, antwortete ich mit wachsendem Unbehagen.
»Sind Sie von der Polizei?«
»Von der Polizei? Nein.«
»Was möchten Sie denn fragen?«
»Darüber würde ich gern mit Mrs. Ketchum selbst sprechen.«
»Das ist leider nicht möglich.«
»Warum nicht?«
»Weil seit zwölf Jahren kein Mensch mehr etwas von ihr gehört hat.« Das Baby im Hintergrund begann lauter zu schreien.
»Sie ist verschwunden?«
»Ja, im Mai werden es zwölf Jahre. Entschuldigen Sie, ich muß jetzt aufhören. Wenn Sie heute abend noch einmal anrufen möchten, können Sie mit meinem Mann sprechen.«
»Vielen Dank«, sagte ich völlig verdattert. »Das wird nicht nötig sein.«
»Und was willst du damit sagen?« fragte Jo Lynn ärgerlich, als ich sie wenige Minuten später anrief. »Nur weil irgendeine Frau von zu Hause abgehauen ist, willst du gleich behaupten, daß Colin was damit zu tun hat.«
»Herrgott noch mal, Jo Lynn, was braucht es denn noch, um dich zur Vernunft zu bringen?« entgegnete ich aufgebracht. »Die Frau ist nicht einfach von zu Hause abgehauen. Sie ist verschwunden. Natürlich hatte Colin damit etwas zu tun.«
»Colin würde Mrs. Ketchum niemals etwas antun. Er hat sie geliebt.«
»Dieser Mann ist unfähig zu lieben. Er kennt keine differenzierten Gefühle, er macht keine Unterschiede zwischen Menschen. Wenn er es fertiggebracht hat, die Frau zu töten, die versucht hat, ihm zu helfen, wieso bildest du dir dann ein, daß es bei dir anders sein wird?«
Statt einer Antwort legte sie auf. Und ich weinte.
Am fünften Februar fuhr ich mit meiner Mutter zu der Ärztin,
bei der wir vor Wochen einen Termin vereinbart hatten. Dr. Cafferys Praxis, in der Brazilian Avenue im Zentrum von Palm Beach, bestand aus mehreren kleineren Untersuchungsräumen und einem großen Wartezimmer in den unterschiedlichsten Pink-Schattierungen. Wie eine Gebärmutter, dachte ich, als ich meine Mutter hineinführte und zur Anmeldung schob.
»Hallo, ich bin Kate Sinclair«, sagte ich. »Das ist meine Mutter, Helen Latimer.«
»Hallo, mein Kind«, sagte meine Mutter zu der Sprechstundenhilfe, die ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt war. Sie hatte kurzes schwarzes Haar, schräg geschnitten, und in jedem Ohr ein halbes Dutzend goldene Ringe und Stecker. Auf ihrem Namensschildchen stand Becky Sokoloff.
»Wir haben einen Termin«, sagte ich.
»Waren Sie schon einmal bei uns?« fragte Becky.
»Nein, wir sind das erste Mal hier.«
»Dann füllen Sie mir bitte diese Formulare aus.« Becky schob mehrere Bogen Papier über ihren hellen Schreibtisch. »Setzen Sie sich doch einen Moment. Dr. Caffery ist heute ein bißchen spät dran.«
Ich nahm die Formulare und ging mit meiner Mutter zu der Reihe pinkfarbener Stühle, die an der blaßrosa Wand standen. Dort saßen bereits mehrere Frauen, eine von ihnen sah von ihrer Zeitschrift auf und lächelte mit resigniertem Blick, der uns wohl sagen sollte, daß die Ärztin mehr als nur ein wenig spät dran war.
»Möchtest du dir eine Zeitschrift ansehen, Mutter?« Ich wartete gar nicht auf ihre Antwort, sondern nahm einen Packen Zeitschriften von dem langen rechteckigen Tisch in der Mitte des Raums und legte ihn ihr in den Schoß.
Meine Mutter legte prompt ihre gefalteten Hände auf den Stapel,
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