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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
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selbst.«

20
    Und das mag oder mag nicht erklären, wieso ich am folgenden Freitagabend neben meiner Schwester saß, als sie ihren klapprigen alten Toyota den Florida Turnpike hinaufjagte nach Starke, zur staatlichen Strafvollzugsanstalt.
    »Meinst du nicht, du solltest ein bißchen langsamer fahren?« Ich war nervös und spähte immer wieder durch die Dunkelheit nach Polizei am Straßenrand. »Soviel ich weiß, wird hier ziemlich stark kontrolliert.«
    »Mich halten sie nie an«, erklärte Jo Lynn selbstherrlich, als wäre sie von einer Aura der Unbesiegbarkeit umgeben. »Außerdem fahr ich nicht besonders schnell.«
    »Du fährst fast hundertvierzig.«
    »Das nennst du schnell?«
    »Ich finde, du solltest langsamer fahren.«
    »Und ich finde, du solltest dich einfach entspannen. Ich bin die Fahrerin.« Sie nahm beide Hände vom Lenkrad und streckte sich.
    »Halt das Steuer fest«, sagte ich.
    »Würdest du dich bitte abregen. Du machst mich noch so nervös, daß ich einen Unfall baue.«
    »Schau mal, du fährst jetzt seit fast drei Stunden.« Angesichts des Tachos, der weiterhin steigende Geschwindigkeit anzeigte, versuchte ich es mit einer anderen Taktik. »Warum läßt du mich nicht eine Weile fahren?«
    Sie zuckte die Achseln. »In Ordnung. Wenn wir das nächste Mal tanken, wechseln wir.«
    Ich schaute durch die Windschutzscheibe hinaus in den tintenblauen Himmel über der flachen, schnurgeraden Straße, an der mit schöner Regelmäßigkeit ganze Batterien von Schildern auftauchten. Die meisten kündeten von der bevorstehenden Ankunft in Disneyworld, das ungefähr fünfunddreißig Kilometer südwestlich von Orlando am Rand Kissimmees lag.
    »Hast du Lust, da mal hinzufahren?« fragte Jo Lynn.

    »Wohin?«
    »Nach Disneyworld. Wir könnten am Sonntag hinfahren.«
    Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Am Samstag das Gefängnis, am Sonntag Disneyworld.
    »Oder wir könnten die Universal Studios besichtigen. Da wollte ich immer schon mal hin. Die sind auch hier irgendwo in der Nähe.«
    »Danke nein.«
    »Wie wär’s mit Busch Gardens? Das soll ganz toll sein.«
    »Da waren wir doch erst vor fünf Jahren«, erinnerte ich sie. »Weißt du noch? Du hast mit den Mädchen eine Bootsfahrt gemacht, und ihr wart hinterher klatschnaß.«
    Jo Lynn juchzte vor Vergnügen. »Stimmt! Die Stromschnellenfahrt. Klar weiß ich das noch. Da gab’s die vielen Tiere. Das war echt Klasse. Komm, da fahren wir hin.« Sie drehte den Kopf und sah mich sehnsüchtig bittend an.
    »Würdest du bitte auf die Straße schauen.«
    »Spielverderberin.« Sie richtete ihren Blick wieder auf den Highway, der sich eintönig vor uns in die Ferne dehnte. »Oder wir könnten zu so einer Alligatorfarm fahren. Du weißt schon, wo immer irgendein armes Kind von der Brücke fällt und aufgefressen wird.«
    »Das kann doch nicht dein Ernst sein.«
    »Natürlich ist es mein Ernst. Solche Sachen liebe ich.«
    »Ich kann nicht«, sagte ich und sah, wie aller Enthusiasmus in ihrem Gesicht erlosch. »Ich hab Larry versprochen, daß ich morgen abend wieder zu Hause bin.«
    Tatsächlich hatte ich ihm nichts dergleichen versprochen. Im Gegenteil, Larry hatte mich gedrängt, die lange Rückfahrt erst am Sonntag zu machen. Aber ich wußte, daß ich meiner Schwester gegenüber nur über begrenzte Toleranzen verfügte.
    »Mensch, bist du fad!« sagte Jo Lynn verdrossen.
    »Immerhin bin ich ja hier, oder nicht?«
    Sie lachte geringschätzig. »Colin hat keine Ahnung, was mit Rita Ketchum passiert ist. Du wirst schon sehen.«

    Und wie steht’s mit Amy Lokash? dachte ich, sagte es aber nicht. Wie steht es mit den zahllosen anderen Frauen, die seine Wege gekreuzt haben und verschwunden sind?
    »Wo ist das Gefängnis eigentlich genau?«
    »Kommt ganz drauf an, mit wem man redet. Die einen sagen, es ist in Raiford, die anderen sagen, es ist in Starke«, erklärte Jo Lynn. »Es liegt auf jeden Fall zwischen Gainesville und Jacksonville. Wir müßten in ungefähr zwei Stunden im Motel sein.«
    »Ich glaube, in Bradford County war ich noch nie«, sagte ich.
    »Na ja, es ist einer der kleinsten Landkreise im Staat«, erklärte Jo Lynn mit der Autorität einer Reiseleiterin. »Die ersten Siedler waren Bauern aus South Carolina oder Georgia. Die Haupterwerbszweige sind Tabak, Holz und Vieh. Zu den größten privaten Arbeitgebern gehören Hersteller von Arbeitskleidung, Holzerzeugnissen und Mineralsand. Bradford County hat eine Bevölkerung von ungefähr dreiundzwanzigtausend

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