Am Seidenen Faden
vor allem auf die anderen Männer und Frauen, die hier auf ihre Freunde oder Verwandten warteten. Es waren vielleicht ein Dutzend Leute, ungefähr zwei Drittel Frauen und ein Drittel Männer, etwa zwei Drittel Schwarze und ein Drittel Weiße. Die jüngeren Frauen trugen alle Röcke, keine allerdings war so auffallend gekleidet wie meine Schwester. Eine ältere Schwarze, die von Kopf bis Fuß in Schwarz war, so daß man kaum erkennen konnte, was Haut und was Kleidung war, weinte leise, den Kopf an der Schulter ihres Mannes; eine andere Frau, mit kleinen Goldringen in den Lippen und tintenblauen Tätowierungen auf beiden Armen, ging nervös hinter einem Tisch in der Nähe auf und ab.
»Alles in Ordnung?« fragte ich meine Schwester, als sie mit leicht erhitztem Gesicht zurückkehrte.
»O ja, keine Sorge.«
»Du bist so schnell weggelaufen, daß ich schon Angst hatte, es wäre was passiert.«
Sie fegte meine Besorgnis mit einer leichten Handbewegung zur Seite. »Ich mußte nur was holen.«
»Was holen?«
Sie ließ sich auf einem der Stühle nieder und stützte beide Ellbogen auf den Stahltisch. Mit einer Kopfbewegung bedeutete sie mir, mich auf den Stuhl gegenüber zu setzen. »Ich hab Colin ein kleines Geschenk mitgebracht«, zischte sie halblaut, ohne den Posten an der Tür aus den Augen zu lassen.
»Ein Geschenk?«
»Pscht! Nicht so laut.«
»Was für ein Geschenk?« Ich sah sofort in Büstenhaltern geschmuggelte Pistolen, in Torten versteckte Messer, obwohl ich wußte, daß das völlig absurd war. Wir hatten zwei Metalldetektoren passiert, und in Jo Lynns Kühltasche befand sich nichts als Käse und belegte Brote. Ich hatte auch kein Geschenk bemerkt, als Tom ihre Handtasche durchsucht hatte.
»Was für ein Geschenk?« fragte ich noch einmal.
Sie schob eine Hand in ihre Strohtasche und holte etwas heraus, wobei sie sorgfältig darauf achtete, daß der Wärter es nicht sehen konnte. Als sie sicher war, daß niemand zu uns herübersah, öffnete sie ihre Hand und zeigte mir sechs selbstgedrehte Zigaretten.
»Marihuana?!«
»Pscht!« Sofort ließ sie den Behälter wieder in ihre Tasche fallen. »Mußt du denn so laut schreien?«
»Bist du verrückt geworden?« fragte ich scharf. »So was mit hierherzunehmen.«
»Hör endlich auf, so zu brüllen, und benimm dich nicht wie ein hysterisches Schulmädchen. Das tun doch alle hier.«
Ich sah mich nervös um, warf einen Blick auf die Schwarze, die immer noch an die Seite ihres Mannes gelehnt weinte, auf das Mädchen mit den Lippenringen und den Tätowierungen, das nervös hinter dem nächsten Tisch auf und ab ging. »Aber wie hast du das denn reingeschmuggelt? Tom hat unsere Taschen doch mit der Lupe durchsucht.«
»In meiner Muschi«, antwortete sie und kicherte. »Mach den Mund zu! Es kommen Fliegen rein.«
»In deiner Scheide?«
»In meiner Scheide«, äffte sie mich nach und verzog dabei verächtlich den Mund. »Mein Gott, Kate, du mußt so ziemlich die einzige sein, die heutzutage noch Wörter wie Scheide benutzt.«
»Ich glaube das nicht.«
»Du würdest dich wundern, wenn du wüßtest, was hier alles los ist.«
»Und wie bringt Colin die in seine Zelle?«
»Das willst du bestimmt lieber nicht wissen.«
»Ich glaube, mir wird schlecht.«
»Dir darf jetzt nicht schlecht werden. Jetzt kommen sie. Vergiß nicht, den Wasserkühler im Auge zu behalten.«
Ich blickte schnell von der Tür zum Wasserkühler und wieder zurück zur Tür, wo jetzt mehrere Gefängniswärter – große, bullige, vage bedrohlich aussehende Männer – ungefähr zehn Männer in den Raum führten. Alle trugen sie die blaue Gefängniskleidung, bis auf eine Ausnahme – Colin Friendly. Er trug wie ich eine blaue Hose und ein organgefarbenes Hemd.
Jetzt verstand ich, warum Jo Lynn über meine Kleiderwahl gelacht hatte. An den orangefarbenen T-Shirts erkannte man hier in der Anstalt die Häftlinge, die im Todestrakt saßen.
Peinlich berührt griff ich an den Kragen meiner orangefarbenen Bluse, während ich beobachtete, wie meine Schwester von ihrem Stuhl aufsprang, um den zum Tode verurteilten Serienmörder zu umarmen; wie seine Hände ihren Rücken hinunterglitten, um ihr Gesäß zu umfassen, wie er den Saum ihres kurzen Röckchens hochzog und flüchtig ihre nackten Gesäßbacken entblößte. In diesem Moment begriff ich, daß Jo Lynn draußen in der Toilette nicht nur das geschmuggelte Marihuana aus seinem Versteck geholt hatte, sondern auch ihr Höschen ausgezogen hatte.
Weitere Kostenlose Bücher