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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
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wieder in seiner Zelle.
    Ich war die ganze Nacht wach und wartete auf Sara, obwohl ich wußte, daß sie erst am folgenden Tag heimkommen würde. Sie war ja bei den Sperlings und paukte eifrig für eine Klassenarbeit. Sie war vor Sonntag abend nicht zurückzuerwarten.
    »Komm ins Bett«, drängte Larry immer wieder. »Du warst schon gestern die ganze Nacht wach. Du brauchst Schlaf.«
    »Ich kann nicht schlafen.«
    »Du könntest es wenigstens versuchen.«
    »Es kann sein, daß sie doch heimkommt.«
    »Bestimmt nicht.«
    »Doch, vielleicht.«
    »Und was willst du zu ihr sagen, wenn sie kommt?«
    »Das weiß ich noch nicht.«
    Das zumindest war die Wahrheit. Ich hatte keinen Schimmer, was ich zu meiner Tochter sagen wollte. Hatte es denn den geringsten Sinn, ihr zum hundertstenmal zu sagen, daß Lügen jedes Vertrauen zerstört und daß ich sie, auch wenn ich sie immer lieben würde, mit jeder Lüge weniger mochte? Würde es sie überhaupt interessieren, daß sie es uns immer schwerer machte, ihr irgend etwas zu glauben, daß sie systematisch alle Glaubwürdigkeit, die sie sich erworben hatte, vernichtete?

    Hatte es irgendeinen Sinn, sie zu fragen, warum sie diese Dinge tat, warum sie ganz bewußt gegen unsere ausdrückliche Anweisung, sich von meiner Schwester und Colin Friendly fernzuhalten, verstoßen hatte? Hatte sie aus dem letzten Zwischenfall nicht mehr gelernt, als sich raffiniertere Lügen auszudenken?
    Mich schauderte, wenn ich daran dachte, daß sie mich wochenlang an der Nase herumgeführt hatte, indem sie ihr Zimmer aufgeräumt, im Haushalt geholfen, ihre Hausaufgaben gewissenhaft gemacht hatte und die meiste Zeit tatsächlich nett und umgänglich gewesen war. Ich erinnerte mich an ihre Umarmung, als sie mich wegen meiner Mutter getröstet hatte, erinnerte mich der überwältigenden Zärtlichkeit, die ich empfunden hatte. Tagelang hatte ich von diesem Gefühl gezehrt. Ich habe mein kleines Mädchen wieder, hatte ich mir gesagt.
    Aber es war alles nur Mittel zum Zweck gewesen; um mich weich zu machen, all meine Vorbehalte zu zerstreuen, Mißtrauen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Aber natürlich kannst du das Wochenende bei deiner Freundin verbringen. Ich weiß, wie fleißig du für diese Arbeit gelernt hast. Ich weiß, wieviel dir daran liegt, gut abzuschneiden. Paß gut auf dich auf, mein Schatz. Übertreib es nicht mit dem Lernen.
    Ich hörte es rascheln und drehte mich um. Michelle kam schlaftrunken ins Zimmer. »Geht’s dir nicht gut?« fragte sie.
    »Doch, doch, Schatz. Ich kann nur nicht schlafen.«
    »Machst du dir Sorgen um Großmutter?«
    »Ein bißchen, ja.«
    »Ich hab gerade nach ihr geschaut. Sie schläft ganz fest.«
    »Danke, Liebes.«
    »Ihre Decke hat auf dem Boden gelegen. Ich hab sie aufgehoben.«
    »Du bist ein gutes Kind.«
    Sie setzte sich neben mich aufs Sofa und kuschelte sich an mich. »Ich glaube, ich weiß jetzt, was ich werden will, wenn ich mal groß bin«, sagte sie, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, so etwas morgens um drei Uhr zu besprechen.

    »Tatsächlich? Was denn?«
    »Schriftstellerin«, antwortete sie.
    »Schriftstellerin? Wirklich? Was willst du denn schreiben?«
    »Romane. Vielleicht auch Theaterstücke.«
    »Das find ich gut«, sagte ich. »Ich glaube, du wärst eine großartige Schriftstellerin.«
    »Ja? Wieso?«
    »Weil du sensibel und aufmerksam und schön bist.«
    Sie murrte. »Um Schriftstellerin zu werden, muß man doch nicht schön sein.«
    »Du hast eine schöne Seele«, sagte ich.
    »Natürlich würde ich erst meine Ausbildung fertig machen«, beruhigte sie mich.
    »Ja, das ist klug.«
    »Ich hab mir gedacht, ich studier vielleicht an der Brown Universität oder sogar in Yale. Glaubst du, die würden mich da nehmen?«
    »Ich denke, die können froh sein, wenn du zu ihnen kommst.«
    Ich strich ihr ein paar Härchen aus der Stirn, gab ihr einen Kuß auf die Nase und starrte die Haustür an. Wie konnte man zwei so unterschiedliche Kinder haben? Wie konnten zwei Kinder, die im selben Haus von denselben Eltern auf dieselbe Weise großgezogen worden waren, so völlig verschieden sein?
    Aber so war es von Anfang an gewesen. Sara war ein schwieriger Säugling gewesen und hatte meine volle Aufmerksamkeit gefordert. Michelle hingegen war leicht zu haben gewesen, glücklich und zufrieden damit dazuzugehören. Sara hatte alle paar Stunden gefüttert werden wollen; Michelle hatte geduldig gewartet, bis ich bereit gewesen war. Sara hatte allen

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