Am Seidenen Faden
Bemühungen, sie sauber zu bekommen, widerstanden und mit sechs Jahren noch in die Hose gemacht; Michelle war mit dreizehn Monaten sauber gewesen, wie von selbst. Nichts hatte sich geändert.
»Du denkst an Sara, nicht?« fragte Michelle.
Ich schloß die Augen und schüttelte den Kopf. Selbst im Dunklen war ich durchschaubar. »Tut mir leid, Schatz.«
»Mach dir ihretwegen keine Sorgen. Ihr passiert schon nichts.«
Ich tätschelte ihre Hand. »Wahrscheinlich hast du recht.«
»Sie ist gar nicht bei Robin, stimmt’s?«
»Stimmt.«
»Das hab ich mir gleich gedacht.«
»Wieso? Hat sie dir gesagt, wohin sie wollte?«
Michelle schüttelte den Kopf. »Nein, sie hat nur gefragt, ob ich ihr mein schwarzweißes Top leihe, du weißt schon, das mit der passenden Jacke.«
»Was will sie denn damit? Das ist ihr doch viel zu klein.«
»Aber sie mag es so.«
»Und was hast du gesagt?«
»Ich hab nein gesagt. Ich hab gefragt, wozu sie mein Top braucht, wenn sie nur lernen will.«
»Und was hat sie darauf gesagt?«
»Blöde Kuh.«
»Was?«
»Ach, das macht nichts. Ich bin’s gewöhnt.«
»Was bist du gewöhnt?«
»Daß sie immer blöde Kuh zu mir sagt. Und manchmal schon Schlimmeres.«
»Warum hast du mir das nicht schon früher erzählt?«
»Weil ich lernen muß, mit diesen Dingen selbst fertigzuwerden. Das sagst du mir doch immer. Hättest du mir nicht gesagt, daß meine Schwester mich tief drinnen in Wirklichkeit sehr lieb hat und daß ich ein gescheites Kind bin und schon darauf kommen würde, wie ich mit diesen Geschichten am besten umgehe?«
Ich lächelte traurig. Ja, genau das hätte ich ihr gesagt. Aber damals war meine Tochter auch noch nicht heimlich durchgebrannt, um bei der Hochzeit meiner Schwester mit einem Serienmörder dabeizusein. Jetzt hatte ich keinerlei Gewißheiten mehr. »Das tut mir leid, Kind. So was verdienst du nicht. Sie hat kein Recht, dich zu beschimpfen.«
»Sie hatte auch kein Recht, mein Top mit der Jacke zu nehmen, aber sie hat’s trotzdem getan.«
»Sie hat die Sachen genommen, obwohl du nein gesagt hattest?«
»Ich hab überall gesucht. Sie sind weg. Und außerdem drei von meinen Kassetten.«
»Deine Kassetten auch?«
»Ja. Nine-inch Nails, Alanis Morissette, Mariah Carey. «
»Das ist wirklich gemein.«
»Sie gibt mir die Sachen bestimmt wieder zurück. Aber die Kassetten sind dann garantiert hin, und die Kleider sind ausgeleiert und stinken nach Zigaretten.«
»Ich kauf dir was Neues«, versprach ich ihr.
»Ich will nichts Neues. Ich will nur, daß sie nicht dauernd meine Sachen nimmt.«
»Ich rede mit ihr.«
»Das nützt doch nichts.«
»Vielleicht doch.«
»Hat es denn schon mal was genützt?«
»Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll«, gestand ich nach einer Pause.
»Kann ich ein Schloß an meinen Schrank machen?«
Ich starrte sie in der Dunkelheit an. Wie pragmatisch meine Kleine war. »Ja, wir lassen ein Schloß anbringen.«
»Gut.«
»Woher bist du nur so gescheit?«
Michelle lächelte. »Kann ich dir was ganz Schlimmes sagen?« fragte sie.
Ich hielt den Atem an. »Wie schlimm?«
»Ziemlich schlimm.«
»Über Sara?«
»Über mich.«
Ich verspürte Furcht und Erleichterung zugleich. Was konnte Michelle mir schon sagen, das so schlimm war? Und wenn es etwas wirklich Schlimmes über sie zu wissen gab, wollte ich es dann überhaupt erfahren? Und gerade jetzt? »Was ist es denn?« fragte ich.
Einen Moment lang schwieg sie, als überlegte sie, ob sie fortfahren sollte oder nicht.
»Du brauchst es mir nicht zu sagen«, sagte ich.
»Manchmal hasse ich sie«, gestand sie.
»Was?«
»Sara«, erläuterte Michelle. »Manchmal hasse ich sie.«
Das ist alles? dachte ich mit großer Erleichterung. Das war das »ganz Schlimme«? »Du haßt deine Schwester?«
»Manchmal. Bin ich deswegen ein schlechter Mensch?«
»Aber nein. Du bist ganz normal.«
»Es ist normal, wenn man seine Schwester haßt?«
»Es ist normal, auf jemanden wütend zu sein, der einem die eigenen Sachen wegnimmt und einen beschimpft«, erklärte ich.
»Es ist aber mehr. Manchmal hasse ich sie richtig.«
»Ich hasse sie manchmal auch«, sagte ich.
Michelle schlang ihre Arme um mich und drückte mich fest. Zwei verletzte Kameraden, dachte ich, als ich sie auf den Scheitel küßte.
»Darf ich dir noch was sagen?« fragte sie. Ich hörte die Tränen in ihrer Stimme.
»Du darfst mir alles sagen.«
»Weißt du noch, als ich in der fünften Klasse war?« fragte sie.
Ich
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