Am Seidenen Faden
Bücher auf dem Sitz neben mir.
»Einen Moment bitte.« Der Wächter zog sich in sein Häuschen zurück und griff zum Telefon. »Tut mir leid, da ist im Moment besetzt. Wenn Sie Ihren Wagen da drüben hinstellen und ein paar Minuten warten möchten, kann ich es noch mal versuchen.«
Ich fuhr den Wagen an die bezeichnete Stelle und wartete. Wer konnte da so lang telefonieren, fragte ich mich. Aus einer Minute wurden fünf Minuten, dann zehn. »Das ist doch blödsinnig. Fahr einfach nach Hause«, sagte ich laut. »Sara braucht die Bücher offensichtlich nicht. Was willst du also?« Sie wird nur glauben, daß du sie kontrollieren willst, fuhr ich in lautlosem Monolog fort, und das wird sie wütend machen. Willst du das? Gerade jetzt, wo alles so gut läuft? »Wo es doch so eine Freude ist, sie da zu haben«, sagte ich laut, ein perverses Vergnügen an den Worten findend. Also, das ist wirklich blöd. Ich schaute zu dem Wachmann
hinüber, der jetzt am Telefon sprach. »Wenn sie nicht hier ist, willst du es dann wirklich wissen?«
Nein, sagte ich mir und wollte dem Wachmann gerade Zeichen geben, daß ich wieder fahren würde, als er den Hörer auflegte und aus seinem Häuschen trat.
»Mrs. Sperling hat gesagt, daß Ihre Tochter nicht hier ist«, rief er, als er sich meinem Wagen näherte.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Mrs. Sperling Sekunden später zu mir, als ich vom Wachhäuschen aus mit ihr telefonierte. »Kurz nachdem Sara gekommen war, bekam sie einen Anruf. Sie sagte, Sie hätten sie gebeten, nach Hause zu kommen, weil irgendwas mit ihrer Großmutter nicht in Ordnung sei. Sie sagte, Sie würden sie draußen am Tor abholen.«
Ich hörte mir das alles schweigend an. Ich war wie vor den Kopf geschlagen.
»Es tut mir sehr leid. Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, fuhr Mrs. Sperling fort. »Sie glauben doch nicht, daß ihr etwas zugestoßen ist?«
»Nein, ich bin sicher, daß ihr nichts passiert ist«, sagte ich. Meine Stimme war so ausdruckslos, als hätte jemand sie plattgedrückt und alles Leben aus ihr herausgepreßt.
»Haben Sie eine Ahnung, wo sie sein kann?«
»Ich weiß genau, wo sie ist«, antwortete ich. »Sie ist auf einer Hochzeit.«
24
Die Szene läuft vor meinen Augen ab, als wäre sie Teil eines Alptraums – in abgerissenen Bildfetzen, die in helles Licht getaucht werden und sich gleich wieder verdunkeln, ohne ein Ereignis mit dem nächsten zu verbinden oder einen Zusammenhang herzustellen. Ich sehe meine Schwester in einem kurzen, jedoch überraschend konventionellen, weißen Hochzeitskleid mit schulterlangem
Schleier, der ihr strahlendes Lächeln verhüllt, aber nicht verbirgt. Ich sehe Colin Friendly in blauer Arbeitshose und dem orangefarbenen T-Shirt des Todeskandidaten, der lachend an der Seite meiner Schwester geht, während sein Blick an ihr vorbei zu dem schönen jungen Mädchen schweift, das folgt. Das Mädchen trägt Schwarz-weiß, hell und dunkel wie ihr Haar, dessen braune Wurzeln sich immer weiter in die blonden Locken schieben. Ihre grünen Augen sind groß und neugierig; ihr Mund verzieht sich unsicher zu einem Lächeln.
Großaufnahmen einzelner Körperteile: Augen, Münder, Brüste, Hände, Fäuste, Zähne.
Männer in der blauen Gefängniskleidung stehen zu beiden Seiten des Gefängnisgeistlichen, der eine Brille trägt und in seinen ruhigen Händen die Bibel hält.
Weitere Großaufnahmen – Tische und Stühle aus rostfreiem Stahl, deren Beine auf dem Linoleumboden verschraubt sind. Die Beine von Menschen – weiße hochhackige Pumps, schwarze Doc Martens, braune Slipper, abgestoßene Turnschuhe.
Ohnmächtig sehe ich zu. Der Geistliche öffnet den Mund, um zu sprechen.
Nimmst du diese Frau?
Kann denn niemand das aufhalten?
Nimmst du diesen Mann?
Lauf! Lauf, solange du noch kannst.
Wenn jemand berechtigten Grund hat, Einspruch zu erheben …
Sind denn alle verrückt geworden? Warum bin ich die einzige, die Einspruch erhebt?
… so soll er jetzt sprechen oder auf ewig schweigen.
Ich schreie doch. Warum hört mich keiner?
Er hört mich. Colin Friendly hört mich.
Die Hände an den Seiten der blauen Arbeitshose ballen sich zu Fäusten. Stechende blaue Augen verengen sich haßerfüllt.
Lange manikürte Finger mit rosa lackierten Nägeln recken sich in die Luft. Fäuste entspannen sich, eine Hand schiebt einen
schmalen goldenen Reif auf den vierten Finger der ausgestreckten Hand. Die Hand zeigt stolz den Ring, so daß alle ihn sehen können.
Geräusche:
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