Am Seidenen Faden
nickte. »Ja.«
»Und Mr. Fisher mir die Schmetterlingspuppe mit nach Hause gegeben hat, damit ich über die Weihnachtsferien auf sie aufpasse?«
»Ja, ich erinnere mich.«
Michelle hatte ein Einmachglas mit nach Hause gebracht, in dem sich eine Schmetterlingspuppe, die an einem kleinen Stöckchen klebte, befand. Jeden Tag sah sie nach dem Glas, beobachtete die Puppe, hielt nach Zeichen von Wachstum Ausschau, sorgte sich um das Ding wie eine Mutter um ihr neugeborenes Kind. »Ich glaube, da stimmt was nicht«, rief sie eines Tages. »Ich glaube, die Puppe müßte höher sitzen.«
»Ich glaube, du solltest sie einfach in Ruhe lassen«, meinte Sara.
»Ich glaube, sie müßte höher sitzen.« Michelle griff in das Glas und zog die Puppe mit den Fingern höher. »So ist es besser.«
Als Michelle das Glas stolz in die Schule zurückbrachte, sagte ihr der Lehrer, daß die Puppe durch irgend etwas von ihrer Unterlage gelöst worden sei und der Schmetterling darin gestorben sei. »So was kommt vor«, tröstete er sie. »Mach dir deswegen keine Vorwürfe.«
»Es war meine Schuld«, sagte Michelle jetzt, leise weinend. »Ich hab die Puppe weggezogen, und da ist der Schmetterling gestorben. Sara hatte recht.«
»Ach, mein Liebes.«
»Sie hat gesagt, ich soll die Puppe in Ruhe lassen. Aber ich hab nicht auf sie gehört.«
»Und all die Jahre hat dich das bedrückt?«
»Ich hab Mr. Fisher nie gesagt, daß ich die Puppe verschoben habe.«
Ich wiegte sie in meinen Armen wie früher, als sie klein gewesen war. »Es wäre wunderbar, wenn wir die Zeit zurückdrehen und die Dinge ändern könnten, wenn wir alle unsere Fehler wiedergutmachen und alles in Ordnung bringen könnten.«
Michelle schniefte laut. »Aber das können wir nicht.«
»Nein. Wenn wir es könnten, hätten wir soviel damit zu tun, die Vergangenheit neu zu schreiben, daß uns für die Gegenwart keine Zeit mehr bliebe.«
»Was mußt du neu schreiben?« fragte sie.
»Ach, du lieber Gott. Das ist eine viel zu große Frage für heute nacht«, antwortete ich. »Außerdem quält man sich selbst, wenn man anfängt, solche Fragen zu stellen. Wir alle machen Fehler. Es kommt einfach darauf an, sein Bestes zu tun.«
»Ich finde, du hast alles sehr gut gemacht«, sagte Michelle großzügig.
»Danke dir, Schatz. Hab ich dir eigentlich schon gesagt, daß ich, wenn ich mal groß bin, genauso sein möchte wie du?«
Sie lachte unter Tränen, schniefte noch einmal kräftig und umarmte mich fester.
Wir hörten Schritte, drehten uns gleichzeitig herum und sahen meine Mutter in einem weißen Flanellnachthemd aus den Schatten treten. Das dämmrige Licht der Mondsichel spielte auf ihrem Gesicht.
»Hallo, Kind«, sagte sie und setzte sich an meine andere Seite. »Ist es schon Zeit zum Aufstehen?«
»Es ist drei Uhr morgens, Großmama«, sagte Michelle.
»Aber ja, natürlich«, erwiderte meine Mutter.
»Wir gehören alle ins Bett.«
»Wo ist dein Vater?« fragte meine Mutter, sich umsehend.
»Er schläft«, antwortete Michelle.
»Wo ist dein Vater?« wiederholte meine Mutter, und ich begriff, daß sie mich meinte.
»Er ist tot«, antwortete ich vorsichtig.
»Ach ja«, sagte sie und nickte mit ihrem grauen Kopf. »Daran erinnere ich mich. Wir saßen eines Abends beim Essen, wir waren beim Nachtisch, und da ist er aufgestanden, um sich ein Glas Milch zu holen. Er sagte, er bekäme auf einmal höllische Kopfschmerzen. Das waren seine genauen Worte – höllische Kopfschmerzen. Ich erinnere mich ganz genau, weil er nie solche schlimmen Wörter gesagt hat.«
»Höllisch ist doch kein schlimmes Wort« bemerkte Michelle.
»Nein?«
»Nein. Heutzutage nicht.«
»Aber damals war es schlimm«, erklärte meine Mutter mit einer Gewißheit, die mich überraschte.
Wir schwiegen, drei Generationen von Frauen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen in der Dunkelheit vor Tagesanbruch. Ich erinnere mich, daß ich meinte, mich nie zuvor so hilflos gefühlt zu haben.
Gott, gib mir die Gelassenheit, die Dinge zu akzeptieren, die ich nicht ändern kann, betete ich unwillkürlich, die Kraft, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, den Unterschied zu erkennen.
25
Unnötig zu sagen, daß ich die ganze Nacht kein Auge zutat. Als Larry am nächsten Morgen um acht aufstand, saß ich immer noch auf dem Sofa im Wohnzimmer, den glasigen Blick starr auf die Haustür gerichtet. Ich war allein. Ich erinnerte mich vage, daß Michelle meine Mutter irgendwann in
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