Am Seidenen Faden
sah mir direkt in die Augen. »Du kannst mich mal.«
Ich sah mich, wie ich buchstäblich durch das Zimmer flog, die Füße in der Luft, die Arme lang ausgestreckt. Im nächsten Moment landete ich auf Sara, und meine Fäuste schlugen wie Hämmer auf ihren Hinterkopf, ihren Nacken, ihre Schultern, jeden Teil ihres Körpers, den sie erreichen konnten. Sara schrie, hob die Hände, um sich vor meinen Schlägen zu schützen, versuchte zu fliehen. Wir schrien und weinten beide, während ich sie unablässig mit beiden Fäusten bearbeitete.
»Hör auf, Mama!« schrie sie. »Hör doch auf!«
Entsetzt sprang ich zurück und starrte Sara in das erschrockene, tränennasse Gesicht. »Sara, es tut mir so leid«, begann ich.
»Du blöde Kuh!« sagte sie.
Ohne zu überlegen, holte ich aus und schlug ihr ins Gesicht, so heftig, daß meine Handfläche brannte und das Geräusch des Schlags durch das ganze Haus schallte. Ich sah, wie ein Tränenstrom der Wut die Jahre von Saras Gesicht spülte. Aus dem Teenager wurde das Kind, dann der Säugling an meiner Brust. Ach,
mein Baby, dachte ich, als sie sich zu ihrer vollen Amazonengröße aufrichtete und zurückschlug.
Fassungslos starrte ich meine große Tochter an. Meine Wange brannte, mein Inneres stand in Flammen. »Wenn du mich noch einmal schlägst«, sagte ich langsam und überraschend ruhig, »hast du hier nichts mehr zu suchen.«
»Du hast mich zuerst geschlagen«, protestierte sie.
»Wenn ich dich noch einmal schlage«, fuhr ich ohne einen Moment des Zögerns fort, »hast du hier nichts mehr zu suchen.«
»Was? Das ist ungerecht.«
»Vielleicht, aber es ist mein Haus.«
»Du bist ja verrückt«, schrie Sara. »Ist dir das klar? Du bist verrückt.«
Etwa um diese Zeit kam Larry mit meiner Mutter und Michelle nach Hause.
»Sie ist verrückt geworden«, schrie Sara, als Michelle meine Mutter ins Vestibül schob. »Ich ruf die Polizei an. Ich ruf den Kinderschutzbund an.«
»Was ist denn passiert?« fragte Michelle und ließ meine Mutter stehen, um mir zu Hilfe zu kommen.
»Ach, natürlich, da ist sie ja schon«, rief Sara spöttisch. »Unser kleines Tugendschaf.«
Irgendwie schaffte Larry es, uns alle in unsere Zimmer zu verfrachten, ganz wie der Ringrichter, der die Kontrahenten in ihre Ecken verweist. Er beruhigte meine Mutter, beschwichtigte Michelle, kümmerte sich um Sara, vergewisserte sich, daß alle normal atmeten. Nach einer Weile wurde es still im Haus und dunkel.
»Geht’s dir besser?« fragte Larry, als er später neben mir im Bett lag.
Ich lag auf der Seite und starrte in den diffusen Mondschein, der durch die Vorhänge sickerte. »Nein«, sagte ich.
So einfach war das.
26
»Du brauchst keine Schuldgefühle zu haben«, sagte Larry in den folgenden Tagen häufig zu mir.
Aber natürlich hatte ich Schuldgefühle. Wie wäre es anders möglich gewesen? Ich hatte mein eigenes Kind geschlagen, nicht einmal, sondern mehrmals. Ich hatte mit den Fäusten auf ihren Rücken und ihre Schultern eingeschlagen, ich hatte ihr mit offener Hand ins Gesicht geschlagen. In dieses schöne Gesicht, dachte ich. Wie hatte ich das tun können?
»Sie hat dich provoziert. Sie hatte es verdient«, sagte Larry.
Sie hatte mich wirklich provoziert; sie hatte es verdient.
Aber davon wurde es nicht wieder gut.
»Du hast ihr gezeigt, daß sie sich nicht alles erlauben kann«, sagte Larry.
»Ich habe ihr nur gezeigt, daß ich mich nicht beherrschen kann.«
»Geh doch nicht so hart mir dir ins Gericht, Kate.«
»Ich bin schließlich die Erwachsene«, sagte ich.
»Sie ist siebzehn«, entgegnete er. »Sie ist einsachtzig.«
»Ich bin ihre Mutter.«
»Man sagt nicht blöde Kuh zu seiner Mutter.«
»Ich habe sie geschlagen.«
»Sie hat zurückgeschlagen.«
Sonderbarerweise machte mir von allem, was an diesem Abend geschehen war, die Tatsache, daß Sara mich geohrfeigt hatte, am wenigsten aus. Vielleicht weil ich immer schon der Meinung war, daß man, wenn man jemanden schlägt, darauf gefaßt sein muß, wiedergeschlagen zu werden.
Meine Mutter hatte nie zurückgeschlagen.
Eine Flut unterdrückter Erinnerungen überschwemmte mich. Ich hörte, wie die Haustür meiner Kindheit geöffnet wurde, sah meinen Stiefvater ins Haus kommen. ›Hallo, Darling‹ begrüßte meine Mutter ihn. ›Du kommst spät.‹
›Beschwerst du dich?‹
›Aber nein. Ich habe mir nur Sorgen gemacht. Das Essen war schon vor einer Stunde fertig.‹
›Essen gibt’s, wenn ich heimkomme.‹
›Es
Weitere Kostenlose Bücher