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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
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kocht das Abendessen.«
    »Sie kocht das Abendessen?«
    Michelle zuckte die Achseln.
    »Wann ist sie gekommen?«
    »Vor einer Stunde ungefähr.«
    Ich sah auf meine Uhr. Es war fast sieben. »Ist Sara zu Hause?«
    »Sie hilft Jo Lynn.«
    »Sie hilft?«
    »Ich koste dein Essen vor«, sagte Michelle.
    Ich lachte, wenn auch mit einer gewissen Bitterkeit. »Ich glaube, das ist nicht nötig.« Ich gab ihr einen Kuß auf die Wange. »Aber danke für das Angebot.«
    »Weißt du, die Hauptsache ist, daß wir ruhig bleiben«, sagte Michelle, als wir zum Haus gingen. »Ganz gleich, was passiert.«
    »Es wird nichts passieren«, versetzte ich. Versuchte meine Tochter mich oder sich zu beruhigen?
    »Du weißt doch, wie Jo Lynn ist. Sie macht bestimmt irgendeine Bemerkung, die dich ärgert. Laß dich nicht provozieren.«
    Ich konnte nur staunen über meine kleine Tochter. Woher hatte sie diese Weisheit. Gleichzeitig war ich traurig. Meine vierzehnjährige Tochter wollte mich beschützen. Das war nicht ihre Aufgabe. Es war meine Aufgabe, sie zu beschützen.

    »Mach dir um mich keine Sorgen, Schatz«, sagte ich und öffnete die Tür.
    »Jo Lynn?« Ich trat ins Vestibül.
    »Ich mach das Abendessen«, rief sie aus der Küche. In ihrer Stimme schwangen Töne von Wärme und Intimität. Wozu sind Familien da? schien sie zu fragen.
    »Riecht gut.« Ich straffte die Schultern und zwang mich weiterzugehen. Michelle war direkt hinter mir.
    Jo Lynn stand vor dem Herd und rührte in einer großen Kasserolle mit Gemüse und kleinen Hühnerstücken. Sie hatte eine weiße Jeans an und einen losen, schwarzen Pulli mit V-Ausschnitt. Sara, in Blue Jeans und einem knappen Jeanshemd, stand neben ihr und achtete auf den Reis, der in einem anderen Topf kochte. Sobald sie mich sah, knallte sie den Deckel auf den Topf, drehte sich um und ging aus der Küche.
    »Du hast den Tisch noch nicht gedeckt«, rief Jo Lynn ihr nach.
    »Das mach ich später.«
    »Nein, jetzt bitte«, entgegnete Jo Lynn.
    Zu meinem Erstaunen machte Sara kehrt und kam zurück. Jo Lynn sah mich mit einem Lächeln an. Siehst du, wie leicht das geht, schien das Lächeln zu sagen.
    »Larry ist verreist, richtig?« fragte Jo Lynn.
    »Bis Montag, ja.« War sie deshalb hier – um meine Geschichte zu überprüfen?
    »Soll ich sonst noch was tun?« fragte Sara ihre Tante, als wäre ich überhaupt nicht vorhanden.
    »Im Moment nicht, danke.«
    »Dann kann ich jetzt gehen?«
    »Klar. Ich ruf dich, wenn das Essen fertig ist.«
    Sara vermied es, mich anzusehen, als sie hinausging.
    »Warum hast du Sara aus ihrem Zimmer rausgeworfen?« fragte Jo Lynn sofort. »Du hättest Mutter doch ins Arbeitszimmer legen können.«
    Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich sah zu Michelle hinüber, die am Sofa im Wohnzimmer lehnte und die Szene beobachtete.
»Lächeln«, sagte sie lautlos und schob ihre Lippen mit den Fingern hoch, als wollte sie das Wort unterstreichen.
    »Es ist doch nicht für lange«, sagte ich.
    »Das eigene Zimmer ist für jedes junge Mädchen ein Heiligtum«, fuhr Jo Lynn fort. Sie sprach in einem Ton mit mir, als wäre ich nie ein junges Mädchen gewesen. »Du mußt lernen, die Privatsphäre eines Kindes zu respektieren, wenn du von dem Kind Respekt vor dir erwartest.«
    »Ach, tatsächlich?«
    Michelle räusperte sich. Das künstliche Lächeln auf ihren Lippen wurde noch angestrengter.
    »Ich wollte damit nur sagen, daß ich noch gut weiß, wie aufgebracht ich immer war, wenn jemand in mein Zimmer gegangen ist«, erklärte Jo Lynn. Dann sagte sie: »Der Hühnereintopf wird klasse. Du wirst staunen. Ich hab mich zu einer richtigen Köchin entwickelt.«
    »Wie schön.«
    »Man braucht nur ein bißchen Übung. Ich meine, jeder, der lesen kann, kann auch kochen. Wenigstens hat Mama das immer gesagt.«
    »Seit wann beherzigst du etwas, was Mama gesagt hat?«
    »Ich habe in letzter Zeit einen Haufen Rezepte ausprobiert«, fuhr sie fort, als hätte ich nichts gesagt. »Damit ich Colin was bieten kann, wenn er rauskommt.«
    »Wie schön«, sagte ich wieder, weil es mir am unverfänglichsten erschien.
    Aber da hatte ich mich getäuscht. »Warum sagst du dauernd ›wie schön‹? Das ist doch die reine Ironie. Ich weiß ganz genau, daß es dir am liebsten wäre, wenn Colin niemals rauskäme.«
    »Es ist schön, daß dir das Kochen soviel Spaß macht«, sagte ich.
    »Ich hab nicht gesagt, daß es mir Spaß macht.«
    Wieder sah ich zu Michelle hinüber. Sie schob mit dem Handrücken ihr Kinn

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