Am Seidenen Faden
darauf?«
»Meine Mutter hat Selbstmord begangen«, sagte sie. Ihre Augen waren klar und trocken. »Und ich habe auf meine Art das gleiche getan. Ich habe nur ein bißchen länger gebraucht zum Sterben.«
28
»Du Schwein!« schrie ich, als ich in meinem Auto saß und den I-95 hinunterfuhr. Ich schlug mit der Faust auf das Lenkrad. »Du verlogenes Schwein! ›Meine Frau und ich haben seit drei Jahren nicht mehr miteinander geschlafen.‹ Na klar. Und du hast ihm geglaubt.« Ich klatschte mit der Hand auf den Rückspiegel, sah, wie mein Bild kippte und verschwand. »Du blöde Gans.«
Wie hatte ich nur so dumm sein können? War ich denn, wenn es um Robert ging, immer noch so hoffnungslos naiv wie vor dreißig Jahren? Aber so naiv war ich damals gar nicht gewesen; ich hatte gewußt, daß ich nicht die einzige war. Ich hatte alles über seine Besuche bei Sandra Lyons gewußt. Und hatte so getan, als wüßte ich nichts. Genau wie seine Frau das jahrelang getan hatte. Wir hatten uns etwas vorgemacht und uns dabei selbst verloren.
Wenigstens weiß sie nicht, daß du die Frau bist, dachte ich und fragte mich schon im selben Moment erschrocken, oder vielleicht doch? Vielleicht war ihr Besuch bei mir lang geplant gewesen und dann mit der Finesse ausgeführt worden, die man von jemandem, der in solchen Angelegenheiten so viel Erfahrung hatte, erwarten konnte.
»Ich bin auch nicht dumm«, hörte ich Brandi sagen und sah wieder ihre traurigen grauen Augen vor mir, spürte die Berührung ihrer Hand, als wir uns voneinander verabschiedet hatten. »Ich glaube nicht, daß ich noch einmal wiederzukommen brauche«, hatte sie gesagt, als sie gegangen war.
»Vor Frauen mit Getränkenamen sollte man sich hüten«, hat Robert gesagt. Aber er hatte vieles gesagt. Was davon war wahr?
»Meine Frau und ich haben seit drei Jahren nicht mehr miteinander geschlafen.«
Vielleicht stimmte das ja. Vielleicht war es Brandi, die log, und nicht Robert. Vielleicht war Robert all die Jahre ein guter und treuer Ehemann gewesen, obwohl seine Frau kalt und lieblos war.
»Glaubst du das im Ernst?« fragte ich mich laut.
In dem Auto neben meinem saß eine Frau, die ebenfalls Selbstgespräche zu führen schien. Wahrscheinlich hat sie ein Telefon mit Lautsprecheranlage, dachte ich und sagte mir, daß sie wahrscheinlich das gleiche von mir dachte. Alle diese verrückten Frauen, die auf Amerikas Highways herumsausten und Selbstgespräche führten. Ich lachte. Sie auch.
Lachte auch Brandi? Hatte sie sich, als sie bei mir weggegangen war, ins Fäustchen gelacht, weil sie wußte, daß sie ihr Ziel erreicht, die Rivalin übertölpelt, die mögliche Geliebte ihres Mannes ins Stolpern gebracht hatte? War es möglich, daß alles, was sie gesagt hatte, gelogen war, daß sie sich die ganze Geschichte von A bis Z ausgedacht hatte, von den Seitensprüngen ihres Vaters bis zu den Affären ihres Mannes, ja, sogar den Selbstmord ihrer Mutter?
Wer lügt hier, Frau Therapeutin?
Ich wechselte die Spur, ohne Zeichen zu geben, was mir ein wütendes Hupen und einen hochgestreckten Mittelfinger vom Fahrer hinter mir eintrug. Du brauchst jetzt nicht gleich eine Entscheidung zu treffen, sagte ich mir. Du hast bis zum Samstag Zeit, um dir darüber klarzuwerden, wie du die Geschichte mit Robert handhaben willst. »Deine Frau war bei mir in der Praxis«, begann ich im Geist, scheute jedoch davor zurück, mehr zu sagen. Alles weitere war wahrscheinlich sowieso überflüssig.
Den Rest der Fahrt konzentrierte ich mich darauf, an nichts zu denken. Jedesmal, wenn ein Gedanke kam, schob ich ihn weg. Jedesmal, wenn ein Bild erschien, wischte ich es fort. Als ich ungefähr fünfzehn Minuten später zu Hause ankam, war ich total erschöpft von dem vielen Schieben und Wischen und hatte einen ersten Anflug starker Kopfschmerzen. Ich wollte nur in einen heißen Jacuzzi und dann ins Bett.
Das klapprige rote Auto stand mitten in unserer Auffahrt, so daß ich weder rechts noch links vorbei kam. »Das hat mir gerade noch gefehlt.« Ich setzte zurück und suchte mir einen Parkplatz auf der Straße. »Was willst du hier, Jo Lynn?« fragte ich die dichter werdende Dunkelheit.
Die Haustür wurde geöffnet, als ich mich dem Haus näherte. Michelle trat heraus. Sie zog die Tür hinter sich zu und kam mir entgegen. »Ich wollte dich vorwarnen«, sagte sie.
»Was gibt’s denn?«
»Jo Lynn ist hier.«
»Das seh ich. Wo ist Großmama?«
»Sie schläft.«
»Und was tut Jo Lynn?«
»Sie
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