Am Seidenen Faden
und wußte, daß sie das gleiche dachte. Jung und verliebt zu sein, so wahnsinnig verliebt, daß man meint, es ohne den anderen nicht aushalten zu können, sich beinahe schmerzhaft nach den Umarmungen und den Küssen des anderen zu sehnen, so heiß begehrt zu sein, so im Taumel der Gefühle, so entrückt dem Rest der Welt. Wieder siebzehn zu sein.
Dies war meine Phantasie: Robert und ich in leidenschaftlicher Umarmung. Seine Augen voll zärtlicher Liebe. Zart küßt er meine Mundwinkel, die Biegung meines Halses, meine flatternden Lider, meine Wangen, meine Nasenspitze. Seine Hände umschließen mein Gesicht, seine Finger spielen in meinem Haar, seine Zunge spielt mit meiner, unsere Küsse werden tiefer und leidenschaftlicher und doch weicher, immer weicher.
Die Realität würde anders sein. Das war immer so. Oh, wir würden vielleicht intensive, zärtliche Küsse tauschen, aber sie würden bloße Ouvertüre sein, eine Ouvertüre von begrenzter Dauer, da die Zeit knapp war. Auf mich wartete Sara zu Hause; Robert hatte zweifellos noch Pläne mit seiner Frau. Wir konnten nicht zu lange ausbleiben, ohne Verdacht zu erregen. Darum würden den Küssen bald drängendere Liebkosungen folgen. Kleidungsstücke würden geöffnet, abgelegt, weggeworfen werden.
Glieder würden sich miteinander verschlingen, Körper einander begegnen. Ein anderer Körper als der, der mir vertraut war, eine andere Weise der Berührung. Und es würde wunderbar sein. Ich wußte, es würde wunderbar sein. Und wenn es vorüber war, würden wir beieinanderliegen und uns der verstreichenden Zeit bewußt sein und des feuchten Flecks unter uns.
Das war der Unterschied zwischen Phantasie und Realität. Bei einer Phantasie gab es keine Konsequenzen, kein emotionales Durcheinander. Wenn sie vorüber war, fühlte man sich großartig und nicht schuldig. Phantasien hinterließen keine feuchten Flekken.
Das war es, was ich mir wünschte. Ich wünschte die Phantasie.
Ich brauchte nicht noch mehr Realität. Davon hatte ich sowieso schon zuviel.
Ich sah Robert und mich, wie wir auf gegenüberliegenden Bettkanten saßen, ohne zu sprechen, ohne uns zu berühren, nur damit beschäftigt, uns wieder anzuziehen. Ich wußte, ich würde mich entsetzlich fühlen. Ich fühlte mich schon jetzt entsetzlich.
»Was tue ich hier?« flüsterte ich vor mich hin. Und im selben Moment sah ich ihn.
Selbstbewußt und sicher kam er durch die Tür, lässig die Arme schwingend. Er trug eine dunkelblaue Hose und ein weißes Polohemd, das seinen beeindruckend muskulösen Körper betonte. Das Haar fiel ihm jungenhaft in die Stirn. Die Lippen waren zu einem natürlichen Lächeln gekräuselt. Konnte ein Mensch schöner sein? War es möglich, einen Mann so heftig zu begehren und so wenig zu mögen?
Mir verschlug es einen Moment den Atem, als die Wahrheit dieses beiläufigen Gedankens mich wie ein Faustschlag in den Magen traf. Die Wahrheit war, daß ich Robert nicht sonderlich mochte, daß ich ihn nie gemocht hatte und eben dies der Grund war, weshalb ich vor dreißig Jahren nicht mit ihm geschlafen hatte. Und weshalb ich jetzt nicht mit ihm schlafen konnte.
Selbstsicher schritt Robert durch das Foyer, den Blick geradeaus gerichtet, weder nach rechts noch links schweifend. Er sah
mich nicht. Es überraschte mich nicht. Ich war unsichtbar für Robert, war immer unsichtbar für ihn gewesen. Wie konnte man auch einen anderen sehen, wenn man beim Blick in die Augen des anderen immer nur das eigene herrliche Bild sah?
Das war die Wahrheit. Das war die Realität.
Ich beobachtete, wie Robert mit dem Mann am Empfang sprach und sich dann flüchtig in der großen Hotelhalle umsah. Steh auf, befahl ich mir. Steh auf und zeig dich, sag ihm, daß du es dir anders überlegt hast. Statt dessen kroch ich tiefer in den Sessel hinter der Topfpflanze, obwohl ich wußte, wie kindisch das war, daß ich ihm, auch wenn ich nicht mit ihm hinaufging, wenigstens die Höflichkeit einer Erklärung schuldete.
Aber irgend etwas hielt mich in meinem Sessel fest, als hätte ich dort Wurzeln geschlagen. Denn trotz meiner jüngsten Erleuchtung und neugefundenen Entschlossenheit wußte ich, wenn ich diesen Sessel verließ, wenn ich Robert gegenübertrat, dann wäre ich verloren. Ich hätte keine Chance gegen ihn. Darum blieb ich in dem Sessel hinter der üppigen Hortensie und beobachtete, wie der Mann, der nun niemals mein Liebhaber werden würde, die Anmeldung unterschrieb, den Zimmerschlüssel entgegennahm und mit
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