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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
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allerdings nicht lange, bis meine Angehörigen sich zu mir gesellten, sich mir an Arme und Beine hängten wie Gewichte, die meinen Schritt verlangsamten und mich niederzogen.
    Laßt mich in Ruhe, schimpfte ich lautlos und versuchte sie alle abzuschütteln. Diese Zeit gehört mir allein. Ich brauche sie, um abzuschalten, mich zu entspannen, zu erfrischen, neue Kraft zu gewinnen. Mit euren Problemen befasse ich mich später.
    Doch anstatt sich diskret zurückzuziehen, wurden sie zudringlicher. Meine Mutter stieg wie ein Geist aus der Flasche vor mir auf, schob ihr Gesicht ganz dicht an meines und umklammerte mich mit beiden Armen in erstickender Umschlingung; meine Tochter sprang mir auf den Rücken, klemmte ihre Beine um meine Taille und ihre Arme um meinen Hals wie ein kleines Kind, das Huckepack reitet, und beide, Mutter und Tochter, engten mich so stark ein, daß ich kaum noch Luft bekam. Warum schwänzte meine Tochter die Schule? Was war mit meiner Mutter los? Und wieso waren das meine Probleme? Wieso hockte ich da mittendrin?
    Von mir brauchst du keine Hilfe zu erwarten, warnte Jo Lynn und hängte sich mit unsichtbaren Händen an meine Füße, so daß ich das Gefühl hatte, mühsam durch tiefen Schnee zu stapfen. Du warst nie für mich da; weshalb sollte ich jetzt dir helfen?
    Ich bin immer für dich da, versetzte ich nach ihr tretend und wäre beinahe über meine eigenen Füße gestolpert. Wer hat dir denn beigestanden in den Dauerkatastrophen mit Andrew, mit Daniel, mit Peter, mit all den Männern, die dir wiederholt die Knochen gebrochen und dein Selbstbewußtsein zerstört haben?
    Okay, aber was hast du in letzter Zeit schon für mich getan? fragte sie, fester zupackend.
    Kümmre dich nicht um sie, forderte Sara.
    Du kannst dich später mit ihr befassen, sagte meine Mutter.

    Ich zuerst, sagte Sara.
    Nein, ich, insistierte meine Mutter.
    Ich.
    Ich.
    Ich. Ich. Ich. Ich. Ich.
    Ich schloß die Augen vor der beklemmenden Angst, die sich wie eine Zwangsjacke um mich legte. »Diese Zeit gehört mir«, sagte ich laut. »Um euch kümmere ich mich später.«
    Die Beklemmung löste sich plötzlich. Ich lächelte und atmete tief durch. Na also, sagte ich mir, manchmal braucht man diese Gedanken nur laut auszusprechen. Aber sofort folgte dem Beklemmungsgefühl eine Hitzewelle von solcher Intensität, als hielte mir jemand eine Lötlampe ans Hirn. Schweiß durchtränkte mein Sweatshirt; meine Stirn wurde feucht; das Haar klebte mir im Gesicht. »Na wunderbar, das hat mir gerade noch gefehlt«, murmelte ich, verlangsamte die Geschwindigkeit der Tretmühle, drehte sie zu schnell herunter und wäre, als sie anhielt, beinahe auf die Nase gefallen.
    Ich holte mir eine Limonade aus dem Kühlschrank und drückte die kühle Dose an meine Stirn, bis das Zimmer aufhörte, sich zu drehen, und die Hitzewallung nachließ. Als ich das nächstemal auf die Uhr schaute, war es fast Viertel nach eins, und ich war immer noch im Trainingsanzug. Schnell warf ich einen Blick in den Warteraum, aber Donna Lokash war noch nicht da. Ich war erleichtert, aber auch etwas besorgt. Es war nicht Donnas Art, zu spät zu kommen.
    Das Telefon läutete genau in dem Moment, als ich mit dem Kopf in meinem Sweatshirt steckte. Ich riß es ganz herunter und griff nach dem Hörer.
    Donnas Stimme klang tränenerstickt. »Bitte entschuldigen Sie. Ich weiß, ich bin zu spät dran. Aber gerade als ich gehen wollte, hat das Telefon geklingelt.«
    »Was ist denn los, Donna? Ist was passiert? Geht es um Amy?«
    Donnas Tochter Amy war seit beinahe einem Jahr verschwunden. Der Fall berührte mich besonders, da Amy mit Sara auf eine
Schule gegangen war und einige Kurse mit ihr gemeinsam besucht hatte. Ich erinnerte mich an den Tag, an dem Donna Lokash das erste Mal zu mir gekommen war. Es war einige Monate nach Amys Verschwinden gewesen. Hager, mit eingefallenem Gesicht und vom Weinen geschwollenen Augen war sie zaghaft zur Tür hereingekommen. Sie kenne mich von den Elternsprechtagen, hatte sie leise gesagt. Sie brauche Hilfe. Sie werde allein mit Amys Verschwinden nicht fertig.
    »Die Polizei hat eben angerufen«, sagte sie jetzt. »Man hat eine Leiche gefunden. Es ist möglich, daß es Amy ist.«
    »O Gott!«
    »Ich soll zur Gerichtsmedizin kommen. Sie schicken mir einen Wagen. Sie haben gesagt, ich soll mit einem Freund oder einer Freundin kommen. Aber ich weiß niemanden.«
    Ich wußte, daß Donna sich seit Amys Verschwinden immer weiter von ihren Freunden entfernt

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