Am Seidenen Faden
hatte und daß ihr geschiedener Mann in New York lebte. Er war unmittelbar nach Amys Verschwinden nach Florida gekommen und mehrere Wochen geblieben. Als danach noch immer jede Spur von Amy fehlte, war er nach New York zurückgekehrt. Er war wieder verheiratet und hatte eine Familie, um die er sich kümmern mußte. Donna hatte keinen Menschen.
»Soll ich mit Ihnen hinfahren?«
»Wäre das möglich?« fragte sie dankbar. »Wir müßten aber jetzt gleich fahren, das heißt, Sie müßten Ihre anderen Termine absagen. Ich würde Sie selbstverständlich für Ihre Zeit und Ihre Mühe bezahlen. Keinesfalls würde ich Sie bitten, das unentgeltlich für mich zu tun.«
»Nun machen Sie sich deswegen mal kein Kopfzerbrechen. Heute ist sowieso kaum was los«, log ich und strich im Geist die restlichen Termine des Tages. »Sagen Sie mir, wo ich Sie treffen soll.«
»Im gerichtsmedizinischen Institut in der Gun Club Road. Westlich vom Kongreß. Vor dem Gefängnis.«
»Ich bin schon unterwegs.« In aller Eile sagte ich meine Nachmittagstermine
ab, klebte einen Zettel für diejenigen an die Tür, die ich nicht erreicht hatte, und machte mich auf den Weg zum städtischen Leichenschauhaus.
4
Zwanzig Minuten später fuhr ich durch das große Tor des Justizgebäudes von Palm Beach County, eine imposante Ansammlung sandfarbener Bauten, zu denen unter anderen die Behörde des Sheriffs, mehrere Verwaltungsgebäude und das Gefängnis gehörten, ein zurückgesetztes Hochhaus, das den Spitznamen Gun Club Hilton trug. Wäre nicht der Stacheldraht über dem Gefängnistor gewesen, so hätte man es leicht für ein ganz gewöhnliches Verwaltungsdomizil halten können.
Das gerichtsmedizinische Institut, ein plumper Flachbau, der dem Komplex vorgelagert war, wirkte nicht recht dazugehörig, eher wie ein alter Schulpavillon, der aus Raumgründen einer nagelneuen Schule angefügt wurde, notwendig, aber unharmonisch. Ich fand ganz in der Nähe einen Parkplatz und schaltete den Motor aus, blieb jedoch im Wagen sitzen und blickte zu dem Teich hinaus, der neben der Straße lag, während meine Phantasie mir vorauseilte in einen sterilen Raum, in dem ein vager Geruch nach Chemikalien hing. Ich sah mich schräg hinter Donna stehen, den Blick abgewandt, meine Hände an ihren Armen, um sie zu stützen, während der Coroner ein weißes Laken von einem Stahltisch zurückzog, um ihr das graue Gesicht eines jungen Mädchens, möglicherweise ihrer Tochter, zu zeigen. Ich hörte sie aufschreien, fühlte sie schwanken, hielt sie, als sie mir in die Arme fiel. Das ganze schreckliche Gewicht ihres Schmerzes fiel auf mich, drückte sich wie ein Kissen gegen meine Nase und meinen Mund, raubte mir die Luft und nahm mir den Atem. Ich schaffe das nicht, dachte ich.
»Wenn sie es schafft, schaffst du es auch«, wies ich mich selbst
laut zurecht, stieg aus dem Wagen und eilte auf dem betonierten Fußweg zur Seitentür des häßlichen Gebäudes. Ein neues, unerwünschtes Bild folgte mir, grausiger noch als das erste: wie der Coroner das Laken zurückschlug und mir den leblosen Körper meines eigenen Kindes zeigte. »Sara«, sagte ich und schrie unwillkürlich auf.
Ein lautes, durchdringendes »Quak« zerschmetterte das Bild wie ein Stein eine Fensterscheibe, und ich drehte den Kopf nach dem Geräusch. In einer Ecke des Gebäudes, nahe bei der Tür, hockte eine dicke Moschusente und wachte über eine kleine Schar frisch geschlüpfter Küken. Die zerbrochenen Schalen der Eier, aus denen sie ans Licht gekrochen waren, lagen noch im Gras um sie herum. Erstaunt betrachtete ich das überraschende Bild, ohne mich näher heranzuwagen, da ich die Entchen und ihre Mutter nicht erschrecken wollte. Einen Moment lang gedachte ich der erstaunlichen Zerbrechlichkeit und Unverwüstlichkeit des Lebens, dann holte ich tief Atem und öffnete die Tür zum Tod.
Donna Lokash saß auf einem der zwei Stühle aus Stahl und Plastik an der cremefarbenen Betonwand des kleinen Empfangsraums. Neben ihr wartete ein uniformierter Polizeibeamter. Sie war seit unserem letzten Zusammentreffen noch dünner geworden, und unter ihren braunen Augen lagen dunkle Schatten. Das braune Haar war in einem Pferdeschwanz zusammengebunden, eher praktisch als schick. Sie sprang auf, als sie mich sah, und eilte mir entgegen.
»Haben Sie die jungen Entchen gesehen?« fragte sie impulsiv, in einem Ton, der etwas Hysterisches hatte.
»Ja, die habe ich gesehen.«
»Das ist doch ein gutes Omen, meinen Sie
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