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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
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nicht?«
    »Ich hoffe es«, antwortete ich. »Wie geht es Ihnen?«
    Sie sah sich mit unsicherem Blick um und senkte die Stimme. »Mir ist ein bißchen übel«, flüsterte sie.
    »Versuchen Sie, tief durchzuatmen«, riet ich ihr und tat selbst das gleiche.
    Der uniformierte Beamte trat auf uns zu und bot mir die
Hand. Er war mittelgroß, mit rotblondem Haar und breitem Brustkorb. »Mrs. Sinclair, ich bin Officer Gatlin. Danke, daß Sie gekommen sind.«
    Ich nickte. »Wie geht es jetzt weiter?«
    »Ich sage drinnen Bescheid, daß Sie hier sind.«
    »Und dann? Bleibe ich hier, oder gehe ich mit Mrs. Lokash hinein?« Ich wies mit dem Kopf zu dem hinteren Raum.
    »Da hinten darf niemand rein«, erklärte Officer Gatlin.
    »Wieso? Das verstehe ich nicht.«
    »Es ist nicht so, wie es immer im Fernsehen gezeigt wird«, erklärte Gatlin freundlich. »Wir lassen nie jemanden die Toten sehen. Es gibt ein paar moderne Einrichtungen, die besondere Besichtigungsräume mit gedämpfter Beleuchtung haben, wo man den Leichnam durch eine Glasscheibe besichtigen kann. Aber das hier ist ein altes Gebäude und klein dazu. Wir haben weder den nötigen Platz noch die Möglichkeiten.«
    »Aber wie …?« Ich schwieg.
    »Man wird Ihnen eine Fotografie zeigen.«
    »Eine Fotografie?«
    »Sie wollen mich mein eigenes Kind nicht sehen lassen«, sagte Donna.
    »Wir wissen ja noch gar nicht, ob es wirklich Amy ist«, bemerkte ich.
    »Sie lassen mich nicht einmal das Foto sehen«, fuhr Donna fort, als hätte ich nichts gesagt. Sie drückte ihre zitternde Hand auf ihren Mund.
    »Was soll das heißen?«
    »Die nächsten Angehörigen bekommen die Fotografie nie zu sehen«, erklärte Gatlin. »Es wäre zu traumatisch. Deshalb bitten wir sie, entweder einen Geistlichen oder einen Freund der Familie mitzubringen, jemanden, der das Opfer gekannt hat …«
    »Aber ich habe sie nicht gekannt«, protestierte ich, als mir plötzlich aufging, daß man von mir erwartete, die Tote zu identifizieren. »Ich meine, ich bin ihr nur ein paarmal begegnet. Ich weiß nicht, ob ich …«

    »Ich hatte keine Ahnung, daß ich sie nicht sehen darf«, sagte Donna weinend. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. O Gott, ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht, wen ich sonst bitten kann. Es tut mir so leid, daß ich Sie da hineingezogen habe, Kate. Bitte verzeihen Sie mir. Ich hatte ja keine Ahnung, daß ich sie gar nicht sehen darf.«
    »Ich werde mir das Bild ansehen«, sagte ich schnell. Wie oft hatte Donna bei mir in der Praxis gesessen und in ihren Familienalben geblättert, um mir Bilder ihrer Tochter zu zeigen: Amy als blonder Säugling; Amy als dralles kleines Mädchen; Amy in ihrem ersten Abendkleid, das lachende Gesicht von hellbraunen Locken umrahmt; Amy mit blitzenden braunen Augen an ihrem siebzehnten Geburtstag, nur Wochen vor ihrem Verschwinden. Ich faßte Donnas Hand und drückte sie. »Ich müßte sie eigentlich erkennen können.«
    Gatlin nickte kurz und ging zu der Glastür, die den Warteraum vom Empfangsraum trennte. »Bitte Knopf drücken«, stand auf einem kleinen Schild neben einem dicken schwarzen Knopf. Er drückte auf den Knopf und sagte der Frau am Empfang, daß ich jetzt bereit sei.
    »Setzen wir uns doch«, schlug ich Donna vor und zog einen der vier Stühle heran, die um einen runden Resopaltisch in der Mitte des Raums standen. Nachdem sie Platz genommen hatte, setzte ich mich neben sie und versuchte, mich auf die Einrichtungsgegenstände in dem kleinen Raum zu konzentrieren- eine weinrote Fußmatte, die vor der Tür auf dem Linoleumboden lag, eine Jalousie vor dem Fenster, ein Wasserspender in einer Ecke, zwei Automaten, der eine für alkoholfreie Getränke, der andere für Süßigkeiten, an zwei Wänden indirekte Neonbeleuchtung, deren Licht auf ein kleines, wenig beeindruckendes Landschaftsbild fiel, ein Schild mit der Aufschrift »Es wird gebeten, nicht zu rauchen« in fünfzehn verschiedenen Sprachen, ein weiteres kleines Schild, auf dem stand, »Manchmal sind es gerade die kleinen Dinge, die man tut, die die große Wirkung haben« -, um die wachsende Panik abzuwehren.

    Ich habe noch nie einen Toten gesehen und, außer in den Fernsehnachrichten, auch nie Bilder von Toten. Ich wußte nicht, wie ich auf den Anblick eines toten jungen Mädchens im Alter meiner eigenen Tochter reagieren würde, selbst wenn ihr Tod mir durch das distanzschaffende Objektiv der Kamera zu Gesicht gebracht wurde. Ein schrecklicher Gedanke kam mir plötzlich.

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