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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
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»Ist das Gesicht verletzt?« fragte ich und bemühte mich krampfhaft, ruhig und sachlich zu sprechen.
    »Wenn das der Fall wäre, würden wir Ihnen das Bild nicht zeigen«, antwortete Gatlin.
    »Wie ist das Mädchen ums Leben gekommen?« fragte Donna Lokash. Sie saß reglos auf ihrem Stuhl und starrte auf die Tür, die nach hinten führte, doch ihr Blick war leer, wahrscheinlich sah sie überhaupt nichts.
    »Sie wurde durch mehrere Stichwunden getötet«, antwortete Gatlin leise, als könnte er dadurch die Wirkung seiner Worte mildern.
    »O Gott!« stöhnte Donna.
    »Wann?« fragte ich.
    »Wahrscheinlich vor mehreren Tagen. Eine Gruppe junger Leute hat die Leiche heute morgen in einem Park in Stuart gefunden.«
    »Aber Amy ist vor fast einem Jahr verschwunden«, entgegnete ich. »Wie kommen Sie darauf, daß sie es sein könnte?«
    »Sie entspricht der allgemeinen Beschreibung«, antwortete er.
    »Und was geschieht, wenn ich sie nicht eindeutig identifizieren kann?«
    »Dann müssen wir es mit den Unterlagen ihres Zahnarztes versuchen, wenn welche da sind«, erklärte Gatlin. »Oder wir müßten Mrs. Lokash bitten, uns Amys Haarbürste zu bringen, irgend etwas, auf dem noch ihre Fingerabdrücke vorhanden sind, dann die Abdrücke sichern und sie mit denen der Toten vergleichen.«
    Die Tür zum hinteren Raum wurde plötzlich geöffnet. Ein großer, gutaussehender Mann mit graumeliertem Haar, das er
glatt aus dem Gesicht gekämmt trug, kam mit einer Fotografie in der Hand herein.
    »O Gott, o Gott«, jammerte Donna leise, während sie sich, die Arme um ihren Körper geschlungen, auf ihrem Stuhl hin und her wiegte.
    »Das ist Fred Sheridan, einer der Pathologen«, stellte Gatlin vor. Ich stand auf. »Sind Sie bereit, Mrs. Sinclair?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
    »Lassen Sie sich ruhig Zeit«, sagte Fred Sheridan gedämpft.
    Zögernd ging ich auf ihn zu. Ich schluckte, schloß die Augen, sprach ein lautloses Gebet. Bitte gib, daß ich es klar erkenne, betete ich und versuchte, das Bild Amys heraufzubeschwören, wie ich sie zuletzt gesehen hatte, vergrößerte es im Geist, konzentrierte mich auf jeden einzelnen Aspekt ihres Gesichts: die Grübchen zu beiden Seiten ihres runden Mundes; die Sommersprossen auf dem Rücken ihrer leicht aufgeworfenen Nase; die weit auseinanderliegenden, glänzenden braunen Augen. Sie war ein hübsches Mädchen, mittelgroß und mittelschlank, was wahrscheinlich bedeutete, daß sie selbst sich für zu klein und zu dick hielt. Ich schüttelte den Kopf und öffnete die Augen. Wenn sie nur wüßten, wie schön sie wirklich sind, dachte ich und war in Gedanken bei meiner Tochter Sara, als ich auf die Fotografie in Fred Sheridans Hand blickte.
    »Sie hatte eine rote Spange im Haar«, sagte Donna Lokash unvermittelt.
    »Was?« Ich drehte mich nach ihr um, ehe ich Zeit hatte, das Bild richtig wahrzunehmen.
    »Als sie an dem Abend wegging, hatte sie eine rote Spange im Haar. Es war nur so ein Plastikding, ziemlich albern, ein kleiner Cupido, der auf einer Reihe roter Herzchen saß, aber sie hat es geliebt. Eines der Kinder, bei denen sie regelmäßig gebabysittet hat, hat ihr die Spange geschenkt, und sie hatte sie verlegt und war sehr traurig deswegen, bis ich sie eines Morgens beim Aufräumen wiederfand. Die Spange war hinter die Kommode gefallen. Amy war ganz aus dem Häuschen, als ich sie ihr zeigte. Sie hatte sie im
Haar, als sie an dem Abend wegging. Sie sagte, sie wäre ihr Talisman.« Abrupt brach Donna ab. Schweigend starrte sie zu Boden.
    »Ist das Amy?« fragte Fred Sheridan leise und lenkte mit seiner Frage meine Aufmerksamkeit wieder auf die Fotografie.
    Das Gesicht, in das ich starrte, war jung und rund und wirkte überraschenderweise wie unberührt. Keine Lachfältchen zupften an den Augenwinkeln; keine Kümmernis hatte ihre Mundwinkel herabgezogen. Ein unbeschriebenes Blatt, dachte ich. Sie hatte nicht einmal die Chance zu leben gehabt. Tränen sprangen mir in die Augen. Ich wandte mich ab.
    »Sie ist es nicht«, flüsterte ich.
    Donna stieß einen erstickten Schrei aus. Ich eilte sofort zu ihr. Sie klammerte sich an meine Hand und neigte schluchzend ihren Kopf darüber. Ihre Tränen berührten warm und feucht meine Haut.
    »Sind Sie sicher?« fragte Gatlin.
    »Ja.«
    Das Mädchen auf der Fotografie mochte eine gewisse Ähnlichkeit mit Amy haben, doch ihre Nase war gerade, nicht aufgeworfen, und ihre Unterlippe war schmaler, weniger voll. Auf der

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