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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
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ich endlich Gewißheit habe und mich damit auseinandersetzen und
mein Leben wiederaufnehmen kann.‹ Und dann denke ich sofort, nein, ich könnte es nicht ertragen, wenn er mir sagen würde, daß er sie getötet hat. Was bleibt mir denn noch vom Leben, wenn ich weiß, daß sie tot ist?«
    Ich sagte nichts. Schweigend beobachteten wir die Ente, die aufgestanden war, prüfend ihr Gelege beäugte und sich dann etwas weiter rechts wieder niederließ.
    »Unablässig muß ich an den Abend denken, an dem sie verschwunden ist«, sagte Donna. »Wir hatten Streit, bevor sie wegging. Wußten Sie das? Hab ich Ihnen das erzählt?«
    »Nein, ich glaube nicht.«
    »Das dacht ich mir schon. Ich hab es keinem Menschen erzählt. Ich schäme mich so.«
    »Wofür schämen Sie sich?«
    »Ach, es war so ein alberner Streit. Es hat geregnet. Ich wollte sie zwingen, einen Schirm mitzunehmen; sie erklärte, sie brauche keinen. Ich sagte, sie benähme sich wie ein kleines Kind; und sie erwiderte, ich solle endlich aufhören, sie so zu behandeln.«
    »Donna«, unterbrach ich, »quälen Sie sich doch nicht so.«
    »Aber es war das letzte, was ich zu ihr gesagt habe. Warum mußte ich wegen eines blöden Schirms so einen Wirbel machen?«
    »Weil Ihnen ihr Wohl am Herzen lag. Weil Sie sie liebhatten. Und das wußte sie auch.«
    »Manchmal, wenn wir gestritten haben, und es ging immer um Lappalien, nie um irgend etwas Wichtiges, aber in dem Moment schien es immer ungeheuer wichtig zu sein, ich weiß nicht, vielleicht weil ich alleinerziehend war und immer das Gefühl hatte, ich müßte an ihr gutmachen, daß sie keinen Vater hatte, ich weiß nicht, ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich dachte, aber ich erinnere mich, o Gott, soll ich Ihnen etwas wirklich Furchtbares sagen? Ich erinnere mich, daß ich manchmal dachte, es wäre mir alles zuviel, daß es vielleicht besser wäre, wenn sie bei meinem geschiedenen Mann leben würde, einfacher für mich, wenn sie gar nicht da wäre. O Gott, o Gott, wie konnte ich nur so was denken?«

    »Jeder, der Kinder hat, kommt manchmal auf solche Gedanken«, versicherte ich ihr, um sie zu beruhigen, und dachte an meine Mutter und Jo Lynn, an mich selbst und Sara. »Deswegen sind Sie noch lange kein schlechter Mensch. Und deswegen sind Sie auch keine schlechte Mutter.«
    Wie auf ein Stichwort zersprang plötzlich das Ei, das wir beobachtet hatten, und ein kleines Geschöpf, das nur Haut und Knochen zu sein schien, drängte mit wackelndem Köpfchen, das von feuchtem Flaum verklebt war, ans Licht. Mit weit aufgerissenem Schnabel und fest zugedrückten Augen schüttelte es ungeduldig die schützende Hülle ab, dann fiel es von der Anstrengung erschöpft auf die Seite und blieb reglos auf dem Boden liegen.
    »Ist es tot?« rief Donna erschrocken.
    »Nein, es ist nur noch zu schwach, um sich zu bewegen.«
    Donna starrte fasziniert auf das erschöpft daliegende Entchen. »Ich muß wissen, was Amy zugestoßen ist«, sagte sie.
    Ich erwiderte nichts. Meine Gedanken waren bei Sara. Kinder können dich verrückt machen, dachte ich, können dir manchmal das Leben wahrhaftig zur Hölle machen. Aber wenn sie erst einmal zu deinem Leben gehören, gibt es kein Leben ohne sie.
    Mehr als alles andere bewog dieser Gedanke mich, Jo Lynn am Mittwoch in den Gerichtssaal zu begleiten.

5
    Ich kam am Mittwochmorgen kurz vor acht vor dem Gericht an. Jo Lynn war schon lange da, fast am Anfang der langen Schlange, die sich durch das Foyer des prächtigen neuen pfirsichfarbenen Marmorgebäudes im Herzen von West Palm Beach wand. Sie hatte mir natürlich gesagt, daß man mindestens zwei Stunden vor Öffnung des Saals da sein müsse, wenn man noch einen Platz bekommen wolle, aber ich hatte mich geweigert, vor acht zu kommen, und sie hatte sich schließlich bereit erklärt, mir einen Platz
freizuhalten. So handelte ich mir eine Menge böser Blicke ein, als ich mich einfach vordrängte.
    »Nächste Woche mußt du aber früh kommen«, sagte Jo Lynn. »Ich halt dir nicht wieder einen Platz frei.«
    Ich lachte spöttisch. »Das ist das erste und das letzte Mal für mich.«
    Jo Lynn lächelte nur, während sie lässig einen grellen fuchsienroten Schal durch ihre blonden Locken zog und mit einer neckischen kleinen Schleife auf der Seite band. Das Tuch hatte die gleiche Farbe wir ihr Lippenstift und ihre hochhackigen Sandalen. Dazu trug sie ein hautenges, tief ausgeschnittenes weißes Jerseykleid mit einem Schlitz an der Seite, der weit übers Knie

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