Am Seidenen Faden
reichte. Neben ihr kam ich mir in meinem konservativen, wenn auch durchaus modischen, beigefarbenen Calvin-Klein-Kostüm wie eine alte Spießerin vor, die altjüngferliche Tante und strenge Richterin, die an allem, was die Jugend tut, etwas auszusetzen hat. Leute gingen vorüber und nickten Jo Lynn lächelnd zu; mich nahm keiner wahr.
Genauso war es, wenn ich mit Sara irgendwohin ging. Die Männer machten lange Hälse, um einen besseren Blick auf meine Tochter zu erhaschen, während sie mich einfach ausblendeten. Wieso verschwendete ich mein Geld an teure Designerkleidung, wenn es doch offensichtlich überhaupt keine Rolle spielte, wie ich aussah? Mich bemerkte ohnehin keiner.
Als ich aus dem Haus gegangen war, hatte Sara noch im Bett gelegen, das hieß, daß sie wieder zu spät zur Schule kommen würde. Aber ihr Zuspätkommen am Tag zuvor war schließlich meine Schuld gewesen, wie sie behauptete. Ich hatte ja den Streit angefangen, ich hatte mich unbedingt in ihre Angelegenheiten einmischen müssen. Als ich gesagt hatte, daß es nicht mehr allein ihre Angelegenheit sei, wenn ich Anrufe von der Schule bekäme, hatte sie wie so oft erwidert, ich solle doch nicht solchen Streß machen. Trotz der Einsichten, die mir der Besuch im gerichtsmedizinischen Institut gebracht hatte, trotz der guten Vorsätze und Entschlüsse, artete die Diskussion von diesem Moment an zum
handfesten Streit aus. Er endete damit, daß Sara die Haustür zuknallte. Ihre Abschiedsworte hallten laut durch die stille Straße: »Danke, daß ich Ihretwegen jetzt zu spät zur Schule komme, Frau Therapeutin!«
Ein Mann näherte sich uns, mittelgroß, in abgewetzten Jeans und einem dunkelblauen Baumwollpulli. Er teilte Jo Lynn mit, er gehe »rüber«, um sich eine Tasse Kaffee zu holen, und fragte, ob er ihr etwas mitbringen könne.
»Ein Kaffee wäre prima, Eric«, antwortete sie. »Und du, Kate, willst du auch was?«
»Einen Kaffee«, sagte ich mit einem dankbaren Lächeln. Er bemerkte es gar nicht.
»Sahne und zwei Stück Zucker, richtig?« fragte er Jo Lynn.
»Genau.«
»Für mich schwarz«, warf ich ein, aber er war schon weg. »Und wer ist Eric?« fragte ich meine Schwester.
Sie zuckte die Achseln. »Ach, den hab ich hier kennengelernt. Er kommt jeden Tag, seit der Prozeß angefangen hat.«
Der Prozeß befand sich in der zweiten Woche. Den Zeitungsberichten zufolge erwartete man, daß er sich bis Weihnachten hinziehen würde. Ich sah mich um und musterte die Gesichter der Leute, die hinter mir warteten. Ganz gewöhnliche Zeitgenossen, stellte ich fest, die sich die Gelegenheit, einen Blick ins finstere Herz des Bösen zu tun, nicht entgehen lassen wollten. Es waren mehr Junge als Alte; mehr Frauen als Männer; vor allem junge Frauen, zweifellos angezogen von der mächtigen Kraft des schaurigen Schönen. Kamen sie her, weil es ihnen das Gefühl gab, sicherer zu sein, alles unter Kontrolle zu haben? Wollten sie ihren eigenen schlimmsten Ängsten ins Auge sehen, mit ihren Blicken die Dämonen vertreiben? Oder waren sie, wie meine Schwester, hergekommen, um dem Dämon einen Heiratsantrag zu machen?
Ich war zum erstenmal in dem neuen Gerichtsgebäude, das im Mai 1995 fertiggestellt worden war. Ich musterte das Foyer und versuchte, es so zu sehen, wie Larry es vielleicht sehen würde, mit dem Auge des Bauunternehmers, der das Detail würdigen kann,
aber das einzige, was ich sah, war ein Haufen Glas und Granit. Vielleicht war ich zu nervös. Vielleicht bedauerte ich bereits meinen Entschluß, hierhergekommen zu sein.
Eric kam mit unserem Kaffee. Meiner enthielt wie Jo Lynns Sahne und genug Zucker, um ein Diabetikerkoma auszulösen. Ich nahm den Becher mit einem Lächeln des Dankes entgegen und ließ das untrinkbare Zeug in meinen Händen kalt werden. Wenigstens hatte Eric sich daran erinnert, daß ich hier war.
Ungefähr eine Stunde später erschien wie aus dem Nichts eine große Schar Männer und Frauen und fegte an uns vorbei durch eine Glastür. »Die Presse«, flüsterte Jo Lynn wohlinformiert, während ich der Gruppe nachblickte und insbesondere einen Mann ins Auge faßte, der mir irgendwie bekannt vorkam. Er war etwa fünfzig, schlank, vielleicht einen Meter fünfundsiebzig groß, mit braunem Haar, und trug einen offensichtlich teuren Maßanzug. Mein Blick begleitete ihn durch die Schranke der Metalldetektoren, bis er hinter einer Ecke verschwand.
»Zu schade, daß der Richter keine Fernsehkameras im Saal erlaubt«, bemerkte Jo Lynn,
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