Am Seidenen Faden
zur Angst, sagte ich mir. Nur weil du dich zufällig im selben Raum mit einem möglichen Massenmörder und
einem alten Schwarm aus der Schule befindest, brauchst du nicht gleich aus dem Häuschen zu geraten.
Im nächsten Moment war es, als hätte jemand mich innerlich angezündet. Ich hatte das Gefühl, alle meine inneren Organe gingen plötzlich in Flammen auf. Schweiß brach mir auf Stirn und Oberlippe aus. Ich riß am Kragen meiner beigefarbenen Bluse und überlegte, ob ich meine Jacke ausziehen sollte.
»Es ist wahnsinnig heiß hier drinnen«, flüsterte ich Jo Lynn zu.
»Überhaupt nicht«, entgegnete sie.
Der Gerichtsdiener rief den Saal zur Ordnung, und der Richter forderte die Anklage auf, ihren ersten Zeugen zu rufen. Die Temperatur im Raum wurde wieder normal. Jo Lynn rutschte aufgeregt auf ihrem Stuhl hin und her, während eine ernsthaft aussehende junge Frau namens Angela Riegert vereidigt wurde.
»Schau dir die doch mal an«, murmelte sie unterdrückt. »So was von dick und häßlich. Die hätte doch nichts lieber als einen Mann wie Colin.«
Als hätte er sie gehört, drehte Colin Friendly langsam seinen Kopf in Richtung meiner Schwester. Ein dünnes Lächeln spielte um seine Mundwinkel.
Jo Lynn beugte sich noch weiter vor. »Wir stehen zu dir, Colin«, flüsterte sie.
Sein Lächeln wurde breiter, dann wandte er sich ab und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Zeugenstand.
»Ich geb ihm später meine Telefonnummer.« Jo Lynn kramte schon in ihrer weißen Strohtasche nach einem Stück Papier.
»Bist du verrückt?« Am liebsten hätte ich ihr eine Ohrfeige gegeben, um sie zur Vernunft zu bringen.
Genau wie der gute alte Dad, dachte ich angewidert und halb entsetzt über meine eigene Primitivität. Ich hatte nie in meinem Leben jemanden geschlagen und würde damit auch jetzt nicht anfangen, ganz gleich, wie sehr es mich reizte. Zornig starrte ich auf Colin Friendlys Hinterkopf. Er sprach offensichtlich meine besten Zeiten an.
Jo Lynn war schon dabei, ihren Namen und ihre Telefonnummer auf einen Fetzen Papier zu kritzeln. »Ich geb sie ihm in der nächsten Pause.«
»Wenn du das tust, dann geh ich. Verlaß dich drauf, ich marschiere einfach raus.«
»Dann fahr ich aber auch nicht mit dir ins Altenheim«, entgegnete sie und drückte einen Finger auf ihre Lippen, um mich zum Schweigen zu mahnen.
Damit hatte sie mir den Wind aus den Segeln genommen. Nur mit meinem Versprechen, sie ins Gericht zu begleiten, hatte ich sie dazu überreden können, an dem mit Mrs. Winchell vereinbarten Gespräch am Nachmittag teilzunehmen, und überdies hatte sie noch darauf bestanden, den Termin auf vier Uhr zu verlegen, weil sie, wie sie es formulierte, »Colin nicht im Stich lassen« wollte, bevor das Gericht sich vertagte. Sie wußte nicht, daß ich da bereits beschlossen hatte mitzukommen. Mir war immer noch nicht wirklich klar, was ich eigentlich in diesem Gerichtssaal tat. Glaubte ich im Ernst, ich könnte hier etwas erfahren, das Donna Lokash helfen würde? Oder wollte ich über meine Schwester wachen, sie vor Colin Friendly und sich selbst beschützen? Oder hatte schlichte Neugier mich hierher geführt? Ich weiß es nicht. Ich werde es wahrscheinlich nie wissen.
»Bitte nennen Sie Ihren Namen und Ihre Anschrift«, sagte der Gerichtsdiener zu der Zeugin, einer kleingewachsenen, etwas korpulenten jungen Frau, die nervös wirkte und sich gar nicht wohl zu fühlen schien. Sie vermied es beharrlich, zum Verteidigertisch hinüberzublicken.
»Angela Riegert«, antwortete sie kaum hörbar.
»Ich muß Sie bitten, etwas lauter zu sprechen«, sagte Richter Kellner freundlich.
Angela Riegert räusperte sich und nannte nochmals ihren Namen. Sie sprach auch das zweite Mal kaum lauter. Kollektives Vorbeugen bei den Zuschauern, die unbedingt alles mitbekommen wollten. Als Adresse gab sie die Olive Street 1212 in Lake Worth an.
Der Staatsanwalt war aufgestanden. Er schloß den obersten Knopf seiner dunkelblauen Anzugjacke, genauso, wie man es im Fernsehen immer sieht. »Miss Riegert, wie alt sind Sie?« begann er.
»Zwanzig«, antwortete sie mit einer Miene, als wäre sie nicht ganz sicher.
»Und wie lange haben Sie Wendy Sabatello gekannt?«
»Wir waren seit der vierten Schulklasse befreundet. Sie war meine beste Freundin.«
»Wer ist Wendy Sabatello?« fragte ich leise.
»Eines der Opfer«, zischte Jo Lynn aus dem Mundwinkel.
Ich starrte zu Boden, unsicher, ob ich noch mehr hören wollte.
»Und
Weitere Kostenlose Bücher