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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
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die wirklich bestens über das ganze Verfahren informiert zu sein schien. »Aber wenn Kameras zugelassen wären, müßt ich mir natürlich eine komplett neue Garderobe kaufen. Weiß kommt im Fernsehen nicht gut raus.«
    »Na, da hast du ja Glück gehabt«, bemerkte ich sarkastisch, während ich überlegte, ob sie ihre Bemerkung ernst gemeint hatte.
    Sie sah mich wütend an. »Mach dich nur über mich lustig!«
    Wir sprachen kein Wort mehr miteinander, bis wir durch die Metalldetektoren geschleust worden waren und uns im überfüllten Aufzug zum Gerichtssaal im obersten Stockwerk befanden.
    Ich wußte nicht, was mich erwartete, und war erstaunt, als ich mich beim Aussteigen aus dem Aufzug einer riesigen Glaswand gegenübersah, die einen spektakulären Blick auf die Stadt, den Küstenkanal und den Ozean dahinter bot. Eine Landschaft wie ein Traum, dachte ich, während ich den langen Korridor hinunterging und schon wußte, daß ich auf dem Weg in einen Alptraum war.

    Vom Gerichtssaal aus, dessen ganze östliche Wand aus Fenstern bestand, hatte man den gleichen prachtvollen Blick. Der Prozeß fand im Raum 11a statt, dem größten Verhandlungsraum im Gebäude. Ich war nie zuvor in einem Gerichtssaal gewesen und war erstaunt, wie vertraut mir das alles vorkam. Film und Fernsehen mit ihren zahllosen Gerichtsdramen sowie die relativ neu eingeführte Direktübertragung von Prozessen auf besonderen Fernsehkanälen hatten dafür gesorgt, daß die Realität greifbarer wurde, man sich in ihr fast wie zu Hause fühlte. Da war der Richtertisch mit Flaggen zu beiden Seiten, dort der Zeugenstand, auf der Seite die Geschworenenbank, dem Podium mit dem Richtertisch gegenüber der Zuschauerraum, der etwa fünfundsiebzig Personen Platz bot, alles genau da, wo ich es erwartet hatte.
    »Colin sitzt dort.« Jo Lynn wies mit einer Kopfbewegung zu dem langen dunklen Eichentisch der Verteidigung, hinter dem drei schwarze Ledersessel standen. »In der Mitte.« Sie hockte ganz vorn auf der Kante ihres Stuhls, weit vorgebeugt, um besser sehen zu können, obwohl es bis jetzt noch gar nichts zu sehen gab. Wir waren in der dritten Reihe des Mittelteils, direkt hinter der Anklage und den beiden Stuhlreihen, die für die Familien der Opfer reserviert waren.
    »Von hier können wir Colin besser sehen«, erklärte sie.
    Ich wünschte, sie würde aufhören, von diesem Menschen, der zahlreicher Morde angeklagt war, zu sprechen, als wäre er ein naher Freund von ihr.
    »Warte nur, bis du siehst, wie gut er aussieht«, sagte Jo Lynn. Die Schultern der Frau, die direkt vor uns saß, strafften sich, ihr Rücken wölbte sich wie der einer Katze. Ich lief rot an vor Scham und Verlegenheit und wandte mich ab. Ohne weiter auf Jo Lynn zu hören, starrte ich durch die Fensterwand zum wolkenlosen blauen Himmel hinaus.
    Erst nach einigen Sekunden merkte ich, daß jemand mich anstarrte. Es war der Mann, der mir schon draußen aufgefallen war, der Mann mit dem braunen Haar und dem teuren Maßanzug. Im
Profil hatte er schmal und kantig gewirkt, angespannt und unzugänglich; von vorn gesehen erschien er wohlwollender, weicher, weniger abweisend. Die Haut seines gutgeschnittenen Gesichts hatte unter dem Einfluß von allzuviel Sonne etwas von ihrer Geschmeidigkeit verloren, sein voller Mund und die hellbraunen Augen waren von feinen Fältchen umgeben.
    Woher weiß ich, daß er hellbraune Augen hat, fragte ich mich und wandte meinen Blick ab, nur um ihn gleich wieder anzusehen, ungeniert anzustarren und staunend zuzusehen, wie die Jahre von ihm abfielen wie Farbschichten, die von den Mauern eines Hauses entfernt waren. Der erwachsene Mann verschwand; ein Junge von achtzehn nahm seinen Platz ein. Er trug ein weißes Trikot mit einer knallroten Zwölf auf der Brust, und der Schweiß des Siegers nach seinem letzten Rennen rann ihm über die Wangen in den lächelnd geöffneten Mund, während er die Glückwünsche der jubelnden Menge entgegennahm. ›Tolles Rennen, Bobby! Hey, das hast du großartig gemacht!‹
    »Robert?« flüsterte ich vor mich hin.
    Jo Lynn stieß mich mit dem Ellbogen in die Rippen. »Das ist der Staatsanwalt, Mr. Eaves, der da gerade hereinkommt. Ich hasse ihn. Der hat’s echt auf Colin abgesehen.«
    Widerstrebend kehrte ich aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück und richtete meine Aufmerksamkeit auf den Staatsanwalt und seine Mitarbeiter, die einen Gang auf der linken Seite des Saals heraufkamen und ihre Plätze vor uns einnahmen. Diverse

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