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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
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Aktentaschen wurden geöffnet und geschlossen, Papiere und Bücher klatschten auf den Tisch, die Herren trafen ihre Vorbereitungen geräuschvoll und ohne auf ihre Umgebung zu achten. Eaves war ein Mann mit ernstem Gesicht, schütterem Haar und einem runden Bauch, über dem das Jackett seines dunkelblauen Anzugs spannte. Er öffnete den obersten Knopf, als er sich setzte. Seine Mitarbeiter, ein Mann und eine Frau, jung genug, um seine Kinder zu sein, und einander ähnlich genug, um Geschwister zu sein, trugen gleichermaßen ernste Mienen zur Schau. Ihre Kleidung war schlicht und unauffällig. Ähnlich wie
meine, wurde mir jäh bewußt, und ich dachte, ich hätte einen Schal tragen sollen, um das Kostüm ein bißchen aufzupeppen, und fragte mich gleichzeitig, wieso mir gerade jetzt solche nichtigen Gedanken durch den Kopf gingen. Langsam ließ ich meinen Blick in den hinteren Teil des Saals zurückkehren.
    Der Junge im weißen Trikot des Leichtathleten war verschwunden. Zurück war der erwachsene Mann im teuren Anzug, jetzt in ein ernstes Gespräch mit dem Mann neben ihm vertieft. Ich wartete darauf, daß er sich wieder in meine Richtung wenden würde, aber nach ein paar Minuten unterhielt er sich immer noch mit seinem Nachbarn. Zweifellos hatte ich mich geirrt. Robert Crowe war ein Junge, mit dem ich in der High-School befreundet gewesen war und den ich nicht mehr gesehen hatte, seit er mit seinen Eltern aus Pittsburgh weggezogen war. Ich erinnerte mich, wie dankbar ich damals gewesen war – durch diesen Umzug war ich etwas leichter darüber hinweggekommen, daß er mir den Laufpaß gegeben hatte. Was sollte Robert Crowe ausgerechnet hier zu tun haben?
    Ich schüttelte ärgerlich über mich selbst den Kopf und zwang mich, meinen nervös wippenden Fuß stillzuhalten. Das Herz schlug mir unerklärlich schnell. Mehr als dreißig Jahre waren vergangen, seit ich Robert Crowe das letzte Mal gesehen hatte. War es möglich, daß er noch immer eine solche Wirkung auf mich hatte?
    »Da! Jetzt kommt er«, erklärte mir Jo Lynn eifrig. Sie drehte sich auf ihrem Stuhl direkt am Mittelgang nach außen und schlug ein Bein über das andere, um die Wirkung ihres lang geschlitzten Rocks zu maximieren.
    Gespanntes Schweigen senkte sich über den Raum, als Colin Friendly durch eine Tür im vorderen Teil des Saals eintrat und von einem bewaffneten Polizeibeamten zu seinem Platz geführt wurde. Seine Anwälte standen auf, um ihn zu begrüßen. Friendly trug einen konservativen blauen Anzug, dazu ein pfirsichfarbenes Hemd und eine Krawatte mit Paisleymuster. Das wellige schwarze Haar war ordentlich gekämmt. Ich sah, wie sein Blick
durch den Saal schweifte, wie der eines Jägers auf der Suche nach Beute, dachte ich schaudernd, als er einen Moment lang Jo Lynn fixierte.
    »Mein Gott, hast du das gesehen?« flüsterte sie und packte meine Hand so fest, daß ihre langen Nägel sich in mein Fleisch bohrten. »Er hat mich direkt angesehen.«
    Ich schnappte nach Luft und bekam keine. Mühelos hatte Colin Friendly den ganzen Sauerstoff im Saal eingesogen.
    »Hast du das gesehen?« wiederholte Jo Lynn drängend. »Er hat mich bemerkt. Er weiß, daß ich seinetwegen hier bin.«
    Die Frau, die direkt vor uns saß, drehte sich wütend um und wandte sich gleich wieder ab.
    »Was ist denn mit der los?« fragte Jo Lynn empört.
    »Herrgott noch mal, Jo Lynn«, versetzte ich. »Du solltest dich mal reden hören. Ist dir eigentlich klar, was du da sagst?«
    »Und was ist mit dir los?«
    Der Richter betrat den Saal einige Minuten später. Pflichtschuldigst standen wir alle auf und nahmen dann wieder Platz. Richter Kellner wirkte mit seinem weißen Haar angemessen richterlich.
    Nach ihm kamen die Geschworenen, sieben Frauen, fünf Männer, zwei weitere Frauen als mögliche Ersatzleute. Alle trugen sie kleine Abzeichen, die sie als Geschworene auswiesen. Von den vierzehn waren acht weiß, vier schwarz, zwei irgend etwas dazwischen. Sie waren alle ordentlich gekleidet, wenn auch überraschend lässig. Zumindest ich war überrascht. Aber ich war natürlich außer den Anwälten und dem Angeklagten die einzige im Saal, die ein korrektes Ensemble trug. Und außer Robert Crowe.
    Wieder drehte ich den Kopf nach hinten. Diesmal trafen sich unsere Blicke. Robert Crowe lächelte. »Kate?« Er formte das Wort lautlos mit seinem Mund.
    Mein Herz schien einen Schlag auszusetzen, plötzliches Erschrecken raubte mir den Atem wie eine dichte Rauchwolke. Es gibt keinen Grund

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