Am Seidenen Faden
Frage noch nachträglich eingefallen, »tragen Sie eigentlich eine Brille?«
»Manchmal.«
»Haben Sie an dem Abend eine getragen?«
»Nein.«
»Ich danke Ihnen. Ich habe keine weiteren Fragen.« Der Anwalt kehrte mit schnellem Schritt zu seinem Platz zurück.
»Gut gemacht«, bemerkte Jo Lynn, und ich mußte ihr zustimmen. In weniger als einer Minute hatte Colin Friendlys Anwalt Angela Riegerts Aussage erschüttert und mindestens ein Quentchen berechtigten Zweifels hervorgerufen.
»Sie können gehen«, sagte Richter Kellner zu der Zeugin. Angela Riegert holte einmal tief Luft, dann verließ sie den Zeugenstand. Jo Lynn warf ihr einen giftigen Blick zu, als sie an uns vorbei aus dem Saal ging.
»Erbärmlich«, erklärte Jo Lynn, und dann wurde die nächste Zeugin aufgerufen.
»Der Staat ruft Marcia Layton in den Zeugenstand.«
Ich blickte im selben Moment zum Mittelgang wie Colin Friendly. Flüchtig trafen sich unsere Blicke. Er zwinkerte mir frech zu, dann sah er weg.
6
Es war fast halb fünf, als wir endlich die Wohnung unserer Mutter am Palm Beach Lakes Boulevard, mehrere Meilen westlich vom Interstate 95 erreichten.
»Warum hast du’s so eilig?« fragte Jo Lynn, die auf ihren bleistiftdünnen Absätzen hinter mir hertrippelte, als ich über den Parkplatz zu dem großen gelben Gebäude rannte, das eine starke Ähnlichkeit mit einem riesigen Zitronenkuchen hatte. »Sie läuft uns doch nicht weg.«
»Ich hab Mrs. Winchell gesagt, daß wir spätestens um vier hier sind«, erinnerte ich sie. »Sie muß um fünf schon wieder weg.«
»Und wessen Schuld ist es, daß wir zu spät dran sind?«
Ich sagte nichts. Jo Lynn hatte ja recht. Allein meine Schuld war es, daß wir uns um fast eine halbe Stunde verspätet hatten. Meine und Roberts.
Er hatte auf mich gewartet, als wir nach der Verhandlung aus dem Gerichtssaal gekommen waren. »Schade, daß ich dich in der Mittagspause verpaßt habe«, sagte er sogleich, während ich mich bemühte, nicht wahrzunehmen, wie klar seine lichtbraunen Augen waren. »Ich mußte zu einer Besprechung.«
»Wie geht es dir? Was tust du hier?« fragte ich mit einer Stimme, die ungefähr eine Oktave höher war als normal. Ich war froh, daß Jo Lynn nicht da war, um meine Regression zum Backfisch zu bemerken. Sie stand immer noch an der Tür zum Gerichtssaal und wartete auf eine Chance, sich an einen von Colin Friendlys Anwälten heranzumachen, nachdem sie den größten Teil der Mittagspause damit zugebracht hatte, einen Brief an das Ungeheuer zu schreiben. Die Telefonnummer allein, fand sie, wäre nicht genug Unterstützung. Colin Friendly müsse wissen, warum sie von seiner Unschuld überzeugt sei, erklärte sie mir. Ich entgegnete ihr darauf, sie gehöre ins Irrenhaus.
»Was ich in Palm Beach tue oder was ich hier bei Gericht tue?« Die Lachfältchen um Robert Crowes Augen kräuselten sich auf
eine Weise, die mir verriet, daß er sich seiner Wirkung auf mich wohl bewußt war, genau wie früher, und daß es ihn amüsierte, vielleicht sogar ein wenig rührte. »Das gleiche könnte ich dich fragen.«
»Ich lebe hier. In Palm Beach. Genauer gesagt in Palm Beach Gardens. Wir sind vor ungefähr sieben Jahren hierhergezogen.« Hatte er das wirklich so genau wissen wollen? »Und du?«
»Meine Eltern sind gleich, nachdem ich mit der High-School fertig war, nach Tampa gezogen«, antwortete er. »Ich hab dann in Yale studiert, bin nach dem Studium nach Florida zu meinen Eltern zurückgekehrt, hab ein Mädchen kennengelernt, hab geheiratet, bin nach Boca gezogen, hab mich scheiden lassen, bin nach Delray gezogen, hab wieder geheiratet, bin nach Palm Beach gezogen.«
»Du bist also verheiratet«, sagte ich und wünschte sofort, die Waage der Gerechtigkeit würde krachend auf meinen Kopf herabsausen.
Er lächelte. »Vier Kinder. Und du?«
»Zwei Töchter.«
»Und einen Ehemann?«
»Ach so, ja, natürlich. Larry Sinclair. Ich hab ihn während des Studiums kennengelernt. Ich glaube nicht, daß du ihn kennst«, babbelte ich und hatte das Gefühl, jemand müßte mir einen Knebel in den Mund schieben. Mein Leben lang hatte ich eine rätselhafte Frau sein wollen, eine dieser Frauen, die immer nur geheimnisvoll lächeln und kaum etwas sagen, wahrscheinlich weil sie nichts zu sagen haben, aber deshalb von jedermann für tief und unergründlich gehalten werden. Wie dem auch sei, Rätselhaftigkeit war nie meine starke Seite. Meine Mutter sagt immer, man könne mir alles vom Gesicht
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