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Am Seidenen Faden

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daß ich keine bekommen hab.«
    Ohrfeige nummer eins, dachte ich.
    »Hast du mit Mutter gesprochen?«
    Sie steckte den Spiegel in ihre Handtasche. »Weshalb sollte ich?«
    Ohrfeige Nummer zwei.
    »Hast du am Wochenende was vor?«
    Sie schloß ihre Handtasche. »Ich habe am Freitag eine Verabredung.« Mit einem herausfordernden Lächeln wandte sie sich mir zu.
    »Ist ja prima. Jemand Neues?«
    »Gewissermaßen.«
    »Kenne ich ihn?«
    »Du glaubst , ihn zu kennen.«
    »Was willst du damit sagen?«
    »Damit will ich sagen, daß du glaubst, ihn zu kennen, aber in Wirklichkeit keine Ahnung hast. Damit will ich sagen, daß du ihn völlig falsch einschätzt. Damit will ich sagen, daß du ihn überhaupt nicht kennst. Damit will ich sagen, daß du den ganzen Morgen sein Profil angestarrt hast.«
    Ohrfeige Nummer drei.
    Der Saal um mich herum wurde plötzlich dunkel. Stühlerücken und Stimmengewirr wichen einem lauten Sausen in meinen Ohren. Mir war schwindlig, ich fühlte mich zittrig. Ich hielt mich an dem Stuhl fest, auf dem ich saß, preßte meine Finger in das harte Holz.
    »Sag mir, daß das ein Witz ist.«
    Jo Lynn zog an ihrem weißen Top, bis das große pinkfarbene Herz wieder richtig in der Mitte ihres großen Busen saß. »Glaubst du, ich würde über etwas, das mir so wichtig ist, Witze machen?«
    Bleib ruhig, mahnte ich mich. »Wann ist denn das zustande gekommen?«
    »Colins Anwalt hat gestern abend mit mir telefoniert. Ich hätte
dich gleich angerufen, aber es war schon zu spät, und ich weiß, daß ihr spätestens um zehn schlaft wie die Murmeltiere.«
    »Ich versteh das nicht«, stammelte ich. »Wo soll dieses Zusammentreffen denn stattfinden?«
    »Das weiß ich noch nicht. In irgendeinem Besucherraum wahrscheinlich. Sie geben mir noch Bescheid.«
    »Jo Lynn, bitte«, sagte ich, unfähig den Mund zu halten. »Findest du nicht, daß du jetzt weit genug gegangen bist? Es ist noch nicht zu spät, die ganze Sache wieder abzublasen. Du mußt da nicht hingehen.«
    »Wovon redest du eigentlich?« Ihr Ton war entrüstet. »Weshalb sollte ich nicht hingehen?«
    »Weil der Mann, von dem wir reden, ein kaltblütiger Mörder ist.«
    »Da bin ich anderer Meinung.«
    »Die Beweise sind doch überwältigend.«
    »Da bin ich anderer Meinung.«
    »Du bist anderer Meinung«, wiederholte ich.
    »Genau, und ich bin überzeugt, die Geschworenen stimmen mit mir überein. Und jetzt«, sagte sie, einem der Reporter zuwinkend, »will ich nicht mehr darüber reden. Warum mußt du eigentlich immer alles miesmachen?«
    »Ich versuche nur, ein bißchen Vernunft walten zu lassen.«
    Jo Lynn sah mich an. »Dir hat’s immer schon an Phantasie gefehlt«, sagte sie.
     
    Er war schon da, als ich um zwanzig nach zwölf im Charley’s Crab ankam. »Tut mir leid, daß ich mich verspätet habe«, sagte ich und setzte mich auf den Stuhl, den der Kellner mir zurechtgerückt hatte. Einen Moment lang sah ich mich in dem großen Lokal um, das aus einer Reihe ineinander übergehender Räume bestand, betrachtete die gerahmten Fotografien preisgekrönter Fische an der einen Wand, die große ausgestopfte Raubmöwe an der anderen, musterte die dichtbesetzte Bar, die gutbetuchten Gäste, aufgetakelte Blondinen und starr lächelnde Männer. Kurz,
ich betrachtete alles, um nur ja nicht den Mann ansehen zu müssen, der mir gegenübersaß.
    »Wenn man bedenkt, daß die Sitzung immer erst um zwölf schließt«, sagte er gerade, »hast du’s in Rekordzeit geschafft.«
    »Ich bin früher gegangen.« Ich winkte dem Kellner. Anderthalb Stunden früher, hätte ich beinahe gesagt, tat es aber nicht. Ich hatte nach Jo Lynns erschreckender Mitteilung das Weite gesucht. Seitdem war ich ziellos mit dem Auto herumgefahren und hatte versucht zu begreifen, was meine Schwester damit beweisen wollte, daß sie sich einem sadistischen Soziopathen an den Hals warf, der höchstwahrscheinlich auf dem elektrischen Stuhl sterben würde. Wenn sie damit unsere Mutter treffen wollte, so funktionierte das nicht. Unsere Mutter hatte alle provokativen Bemerkungen Jo Lynns ignoriert und so getan, als gäbe es am Verhalten ihrer jüngeren Tochter nichts Ungewöhnliches oder Besorgniserregendes. Wenn andererseits ich diejenige war, die Jo Lynn aus der Fassung bringen wollte, so war ihr das zugegebenermaßen glänzend gelungen.
    Der Kellner trat an unseren Tisch.
    »Ich hätte gern ein Glas Weißwein«, sagte ich.
    »Oh«, gab der Kellner verwirrt zurück. »Schmeckt Ihnen der Wein nicht,

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