Am Seidenen Faden
sprechen.«
»Stattgegeben.«
»Um es etwas allgemeiner auszudrücken, Dr. Pinsent«, fuhr der Staatsanwalt unerschüttert fort, »was meinen Sie, wenn Sie sagen, daß Soziopathen den anderen nur das vorspiegeln, was diese gern sehen möchten?«
»Soziopathen sind ausgesprochen manipulative Menschen. Ihre Gefühle sind sehr oberflächlich, und sie kreisen eigentlich nur um sich selbst. Aber sie können die Emotionen nachahmen, die sie bei anderen beobachten, und die angemessene Reaktion zeigen, wobei ich unter angemessener Reaktion diejenige verstehe, die unter den jeweils gegebenen Umständen als normal betrachtet werden würde. Sie nützen aus, daß die meisten Menschen an eine grundlegende Anständigkeit glauben. Und die Menschen schreiben ihnen Gefühle zu, die schlicht und einfach nicht vorhanden sind.« Er machte eine Pause und sah Colin Friendly direkt an. »Soziopathen sind häufig sehr redegewandt, sehr charmant und schlagfertig. Sie verstehen es, einen zum Lachen zu bringen, und dann stoßen sie einem das Messer mitten ins Herz.«
»Kann man denn überhaupt irgend etwas glauben, was sie sagen?«
»O ja. Sie können durchaus aufrichtig sein, man darf dabei nur nicht vergesssen, daß ihre Version der Wahrheit immer selbstsüchtig ist.«
»Wie wird ein Mensch zum Soziopathen, Dr. Pinsent?«
Walter Pinsent rieb sich mit den Fingern über das Kinn und lächelte. »Tja, das ist ein wenig so, als fragte man, was war zuerst da, das Ei oder die Henne? Es ist die ewige Streitfrage – werden Killer geboren oder werden sie gemacht?« Er schüttelte den Kopf. »Es ist unmöglich, das definitiv zu sagen. Es gibt natürlich sehr viele Theorien, die sich jedoch immer wieder ändern, je nach Zeitgeist und politischem Klima. Manchmal wird der genetischen Theorie mehr Gewicht beigemessen, zu anderen Zeiten wieder der Theorie vom Milieu. Wir setzen überzählige Y-Chromosomen und Störungen im hormonalen Gleichgewicht voraus. Aber viele Menschen leiden an Störungen des hormonalen Gleichgewichts;
das macht sie noch nicht zu Mördern. Und viele Menschen haben ein überzähliges Y-Chromosom und kommen dennoch nicht auf den Gedanken, ihre Mitmenschen umzubringen.«
»Leidet Colin Friendly an einer Störung des hormonalen Gleichgewichts, oder hat er ein überzähliges Y-Chromosom?«
»Nein, weder das eine noch das andere.«
»Und wie steht es mit der Theorie, daß das Milieu entscheidend sei?«
Walter Pinsent räusperte sich, straffte die Schultern, zupfte an seiner Krawatte. »Ohne Frage ist unsere Kindheit entscheidend für unsere gesamte Entwicklung. Die Keime für den Menschen, zu dem jemand heranwächst, werden in der Kindheit gelegt. Fast alle Serienmörder hatten eine entsetzliche Kindheit. Sie sind vernachlässigt, geschlagen, mißhandelt, mißbraucht, verlassen worden, sie haben das Schlimmste hinter sich, was man sich vorstellen kann.«
»Trifft das auch auf Colin Friendly zu?«
»Ja.«
Jo Lynn neigte sich zu mir. »Der arme Junge«, flüsterte sie.
»Gibt es irgendwelche Merkmale, die allen Soziopathen gemeinsam sind?« fragte der Staatsanwalt.
»Die Forschung hat gezeigt, daß praktisch alle Kinder, die später Serienmörder wurden, drei Auffälligkeiten gemeinsam haben: Grausamkeit gegenüber kleinen Tieren, Bettnässen über das normale Alter hinaus und einen Hang zur Brandstiftung.«
»Zeigte Colin Friendly diese Auffälligkeiten in seiner Kindheit?«
»Ja.«
»Gibt es für Sie heute, da Sie den Angeklagten kennengelernt, sich mit seiner Geschichte und den zahlreichen psychiatrischen Gutachten über ihn befaßt haben, noch einen Zweifel daran, daß Colin Friendly ein Sadist und Soziopath ist und der Verbrechen schuldig, derer er angeklagt wird?«
»Keinen.«
»Ich danke Ihnen, Dr. Pinsent. Ihr Zeuge, Mr. Armstrong.«
Eaves setzte sich und knöpfte sein Jackett wieder auf; Armstrong stand auf und knöpfte das seine zu.
»Dr. Pinsent, sind Sie Psychiater?«
»Nein.«
»Mediziner?«
»Nein.«
»Dann vielleicht Doktor der Psychologie?«
»Nein. Ich bin promovierter Pädagoge.«
»Ich verstehe.« Jake Armstrong schüttelte wie verwirrt den Kopf, als könne er nicht ganz begreifen, was Dr. Pinsent bei diesem Prozeß als Gutachter zu suchen habe. Es war reine Effekthascherei. Die Geschworenen hatten bereits gehört, daß Walter Pinsent der National Academy des Federal Bureau of Investigation in Quantico, Virginia, angehörte und dort in einer Sonderabteilung arbeitete, die darauf
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