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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
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war. Sie hätte den ganzen Tag gebraucht, um zu Fuß hierherzukommen.
    »Wie bist du eigentlich hierhergekommen?« fragte ich.
    Sie sah mich mit leerem Blick an.
    »Mama«, wiederholte ich und merkte, daß ich Angst bekam, obwohl ich selbst nicht recht wußte, warum. »Wie bist du hierhergekommen?«
    Die dunklen Augen schweiften ängstlich durch das Zimmer.
    »Mama, erinnerst du dich nicht mehr, wie du hierhergekommen bist?«
    »Natürlich erinnere ich mich, wie ich hierhergekommen bin«, antwortete sie. Ihre Stimme klang plötzlich ruhig. Sie stand auf und glättete ihren Rock. »Ich hab ein Taxi zur Worth Avenue genommen. Da hab ich einen Schaufensterbummel gemacht, und dann ist mir eingefallen, daß ich mal bei dir vorbeischauen könnte. Unterwegs ist mir dann plötzlich ein Mann gefolgt.« Sie holte tief Atem und zupfte an ihrem Haar, um es einigermaßen
in Ordnung zu bringen. »Wahrscheinlich wollte er mir nur die Handtasche klauen. Blöd von mir – so hysterisch zu reagieren. Tja, das ist eben das Alter. Nimm’s mir nicht übel.«
    Die Tür zu meinem Wartezimmer wurde geöffnet, dann geschlossen. Ich sah mißtrauisch hinüber, dann wandte ich mich wieder meiner Mutter zu.
    »Es ist nur dein nächster Klient«, beruhigte sie mich und strich mir über die Wange. »Ich geh jetzt wieder. Ich will dich nicht von der Arbeit abhalten.«
    Ich entschuldigte mich bei Sally und Bill Peterson und begleitete meine Mutter nach unten. Ich wartete, bis sie sicher in einem Taxi saß. »Mama«, sagte ich vorsichtig, bevor ich die Tür schloß, »vielleicht solltest du mal zu einem Arzt gehen.«
    »Unsinn, Kind. Mir fehlt nichts.« Sie lächelte. »Aber du siehst ein bißchen schmal aus. Ich glaube, du arbeitest zuviel.« Sie gab mir einen Kuß auf die Wange. »Wir sprechen uns später«, sagte sie, und Sekunden später war sie fort.

9
    »Definieren Sie den Begriff Soziopath.«
    Der Mann im Zeugenstand – im dunkelblauen Anzug mit weißem Hemd und rot gestreifter Krawatte, sowohl distinguiert als auch patriotisch wirkend – ließ sich einen Moment Zeit, um sich die Antwort zu überlegen, obwohl er als Gutachter für die Anklage gewiß bestens vorbereitet war. »Ein Soziopath ist ein Mensch, der der Gesellschaft feindlich gegenübersteht«, begann er. »Normale menschliche Emotionen sind ihm fremd, außer Wut. Diese Wut, in Verbindung mit beinahe totaler Ichbezogenheit und einem völligen Mangel an Empathie, macht es ihm möglich, die schlimmsten Verbrechen zu verüben, ohne Schuld oder Reue zu empfinden.«
    »Und was ist ein Sadist?«

    Wieder eine Pause der Sammlung. »Ein Sadist verschafft sich sexuelle Befriedigung, indem er anderen Schmerz zufügt.«
    »Gehen diese beiden Veranlagungen oder Einstellungen stets Hand in Hand?« Der Staatsanwalt zog seine braune Krawatte zurecht und sah zu den Geschworenen hinüber.
    Ich folgte seinem Blick und stellte fest, daß er die ungeteilte Aufmerksamkeit der Jury hatte. Man brauchte eben nur »sexuell« zu sagen, dachte ich mit einem Blick auf Jo Lynn. Sie trug eine enge weiße Jeans und dazu ein weißes Top, in dessen Mitte ein pinkfarbenes Herz leuchtete.
    »Ein Soziopath muß nicht unbedingt ein Sadist sein, aber ein Sadist ist fast immer ein Soziopath«, antwortete der Zeuge.
    »Und ist Colin Friendly Ihrer Meinung nach ein Sadist, Dr. Pinsent?«
    »Ja.«
    »Ist er ein Soziopath?«
    »Ganz entschieden.«
    Wieder wanderte mein Blick zu Jo Lynn, deren Gesicht ruhig war, ja, heiter sogar. Hörte sie überhaupt, was dieser Mann sagte?
    Der Staatsanwalt trat zum Verteidigertisch, blieb vor Colin Friendly stehen und starrte ihn an, als sähe er ihn zum erstenmal. Colin Friendly erwiderte den Blick mit einem freundlichen Lächeln. Er hatte sich von seinem Grippeanfall offensichtlich bestens erholt. Seine Augen waren klar; er hatte eine gesunde Gesichtsfarbe. Alles war wieder normal.
    »Aber er sieht gar nicht anormal aus«, bemerkte Mr. Eaves, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Im Gegenteil, Mr. Friendly wirkt so freundlich, wie sein Name das auszudrücken scheint – gutaussehend, höflich, intelligent.«
    »Soziopathen sind häufig durchaus intelligent«, erklärte der Zeuge. »Und warum sollten sie nicht gutaussehend sein? Was die Höflichkeit angeht, so spiegelt er ihnen nur das vor, was Sie seiner Meinung nach zu sehen wünschen.«
    Der Verteidiger sprang auf. »Ich beantrage, das zu streichen, Euer Ehren. Der Zeuge kann nicht für Mr. Friendly

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