Am Seidenen Faden
unsere Mutter.«
»Irgendeine muß sich ja hier wie eine Erwachsene verhalten.«
»Na jedenfalls«, fuhr Jo Lynn fort, »mußten wir erst über eine Brücke, um zu den Besucherräumen zu kommen. Es war wie ein
Burggraben, weißt du, so einer, der rund um eine Festung läuft. Eigentlich ist das Gebäude gar nicht so schlecht«, sprudelte sie weiter, als hätte sie Angst, ich könnte auflegen, wenn sie eine Pause machte, um Atem zu holen.
Genau daran hatte ich gedacht, und ich weiß nicht, warum ich es nicht tat. Ich versuchte mir einzureden, ich wartete darauf, mit Sara selbst zu sprechen, und mir bliebe daher gar nichts anderes übrig, als mir den Rest von Jo Lynns Geschichte anzuhören, aber ich bin nicht sicher, daß das die reine Wahrheit ist. Jo Lynn zuzuhören rief eine ähnliche Reaktion hervor wie der Anblick eines schweren Verkehrsunfalls, an dem man zufällig vorüberkommt. Selbst wenn man sich noch so sehr bemüht, nicht hinzusehen, man kann sich nicht abwenden.
»Gleich wenn man vorn reinkommt, stehen überall Schilder. ›Halt! Lesen Sie das Folgende aufmerksam! Folgende persönliche Gegenstände dürfen nicht ins Gebäude mitgenommen werden! ‹ Du kannst dir nicht vorstellen, was für welche – Handys, Wickeltaschen, Hüte. Hüte!« kreischte sie lachend. »Dann kommt man zur Wache, und da stehen wieder Schilder, die üblichen, daß man nicht rauchen soll und so, aber eines war wirklich komisch. Da stand drauf: ›Das Mitbringen von Feuerwaffen, Munition und Waffen aller Art ist verboten.‹ Wir haben vielleicht gelacht! Ich meine, wer wär denn so blöd, ins Gefängnis eine Waffe mitzunehmen?«
Wahrscheinlich jemand, der blöd genug ist, seine siebzehnjährige Nichte mitzunehmen, dachte ich, sagte es aber nicht.
»Als ich ihnen meinen Namen gesagt und erklärt habe, wen ich besuchen will, haben die mich angeschaut wie – ach, ich weiß nicht genau, richtig respektvoll oder so, weil ich nicht nur jemanden besuchen wollte, der den Supermarkt um die Ecke überfallen hatte. Dann mußte ich mich eintragen, und dann haben wir uns in den Warteraum gesetzt. Gemütlich war der ja nicht gerade. Blaue Stühle, absolut unbequem, und der ganze Raum war in so einem widerlichen Grau gestrichen. Aber wenigstens waren ein paar Automaten da, und ich hab uns beiden eine Cola gekauft.
Ich konnte nur ein paar Schlucke trinken, bevor sie mich aufgerufen haben. Ich mußte die Cola stehenlassen, weil im Besucherraum Lebensmittel und Getränke nicht zugelassen sind. Nicht einmal Kaugummi. Stell dir das mal vor!«
»Du hast Sara also allein in dem Warteraum gelassen.«
»Es waren noch andere Leute da. Du brauchst nicht gleich so zu tun, als hätte ich sie im Stich gelassen. Sie hat sich nichts dabei gedacht. Ihr hat’s gefallen.«
»Kann ich jetzt mal mit ihr sprechen?«
»Sie schläft noch.«
»Dann weck sie. Und bring sie nach Hause. Sofort.«
»Warum? Damit du sie anbrüllen kannst? Sie hat nichts Unrechtes getan.«
»Sie hat die Schule geschwänzt«, entgegnete ich. »Sie ist gestern nacht nicht nach Hause gekommen.«
»Sie war bei mir. Und ich hab versucht, euch zu erreichen. Mehrmals. Glaub mir, sie hat gestern mehr über das wirkliche Leben gelernt als in der Schule. Sie schreibt bestimmt einen Aufsatz darüber und bekommt ein A.«
»Du hattest kein Recht …«
»Reg dich ab«, sagte Jo Lynn. »Es ist ja vorbei, und die Kleine hat eine Menge Spaß gehabt. Vermies ihr doch nicht immer alles.«
»Weck sie jetzt bitte auf und bring sie nach Hause«, sagte ich.
»Bald«, entgegnete Jo Lynn eigensinnig.
»Nicht bald. Jetzt.«
Statt einer Antwort legte Jo Lynn auf. Ich drehte mich nach Larry um. Er schüttelte nur den Kopf und ging aus dem Zimmer.
Es war fast vier Uhr, als ich Jo Lynns Wagen vorfahren hörte. Larry, der Angst hatte zu explodieren, wenn er auch nur eine Minute länger auf die Rückkehr Saras wartete, war um zwei Uhr zum Golfplatz gefahren. Ich hatte ihn dazu gedrängt. Ich war zu diesem Zeitpunkt über Zorn und Wut hinaus.
Michelle war mit ihren Freundinnen unterwegs, und ich war allein im Haus. Ich wanderte von Zimmer zu Zimmer, zerredete
innerlich meinen Zorn, packte ihn weg, schaffte ihn mit Rationalisierungen aus der Welt. Sara war nichts passiert, sagte ich mir, und ich wußte, wo sie war. Ihr war kein Leid geschehen. Ein versäumter Schultag war schließlich nicht der Weltuntergang. Sie würde den Stoff leicht aufholen. Sie hatte die Nacht bei meiner Schwester verbracht, und
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