Am Seidenen Faden
schreiben immer was ganz anderes. Ständig zitieren sie einen falsch oder reißen Bemerkungen einfach aus dem Zusammenhang. Die drehen doch alles so hin, wie sie es brauchen.«
»Und was bezwecken sie damit?«
»Colin Friendly auf den elektrischen Stuhl zu bringen. Aber dazu wird’s nicht kommen. Du wirst schon sehen. Er wird freigesprochen. Und wenn es soweit ist, bin ich da, um ihn zu erwarten.«
»Ich muß jetzt Schluß machen.« Ich wollte mir nicht schon wieder die alte Leier anhören müssen.
»Das einzige, wo sie sich wirklich an die Tatsachen gehalten haben«, fuhr sie fort, als hätte ich überhaupt nichts gesagt, »ist seine furchtbare Kindheit. Ich hab geweint, als ich das gelesen habe. Es war so traurig. Hast du nicht geweint?«
»Ich hab’s nicht gelesen«, log ich. Ein Fehler. Jo Lynn fühlte sich sofort verpflichtet, mir sämtliche Details zu liefern, die ich vermeintlich verpaßt hatte.
»Seine Mutter war verrückt. Ich meine, wirklich verrückt. Ihre Eltern haben sie zu Hause rausgeschmissen, als sie fünfzehn war, mit sechzehn war sie schwanger, und als Colin zur Welt gekommen ist, war sie schon Alkoholikerin und drogenabhängig dazu. Sie hat sich vor seinen Augen ihre Spritzen gesetzt, hat dauernd andere Männer mit nach Hause gebracht und in Colins Beisein mit ihnen geschlafen. Sie wußte nicht mal mit Sicherheit, wer Colins Vater war.
Als er noch ganz klein war, hat sie ihn jedesmal, wenn sie weggegangen ist, in einen Schrank gesperrt. Manchmal war sie tagelang
verschwunden, und dann hatte Colin keinen Bissen zu essen. Und wenn er mal mußte, na ja, dann mußte er eben in die Hose machen. Ist das nicht grauenvoll? Kein Wunder, daß er ins Bett gemacht hat, bis er elf war. Natürlich hat sie ihn jedesmal dafür bestraft, auf ganz fürchterliche Art und Weise. Sie hat ihm zum Beispiel die Nase reingedrückt, als wäre er ein Hund. Und sie ist dauernd umgezogen, dadurch hatte Colin überhaupt keine Möglichkeit Freundschaften zu schließen und war schrecklich schüchtern. Er fing an zu stottern, und dann hat seine Mutter ihn ausgelacht und geschlagen. Sie war wirklich grausam.«
»Kein Wunder, daß er Frauen haßt«, sagte ich.
»Aber das stimmt ja gar nicht!« rief Jo Lynn. »Er haßt Frauen nicht. Das ist wirklich erstaunlich, wenn man sich’s mal überlegt. Er liebt Frauen.«
»Er liebt Frauen«, wiederholte ich tonlos.
»Er hatte eine ganz tolle Nachbarin, Rita Ketchum, die war wirklich nett zu ihm. Sie hat ihm beigebracht, daß die meisten Frauen nicht so sind wie seine Mutter.«
»Hast du nicht eben gesagt, sie wären dauernd umgezogen?«
»Das war später, als er schon ein Teenager war und in Brooksville gelebt hat. Allein.«
»Ich kann mich gar nicht erinnern, daß das in dem Artikel erwähnt wurde.«
»Du hast gesagt, du hättest ihn nicht gelesen.«
»Ich hab ihn überflogen«, sagte ich.
»Du hast jedes Wort gelesen. Warum gibst du’s nicht zu?«
»Wie steht’s mit den jungen Katzen, die er als Kind gequält hat? Was für eine Erklärung hat er dafür?«
»Colin hat nie ein Tier gequält. Das waren andere Kinder, die diese Katzen in die Mangel genommen haben. Colin hat sie nur aus ihrem Elend erlöst.«
»Und was ist mit den Zündeleien?«
»Das war doch Kinderkram. Da ist nie jemandem was passiert.«
Sie hatte auf alles eine Antwort. Es war sinnlos, mit ihr zu
streiten. Was auch immer ihre Gründe sein mochten, in den Augen meiner Schwester war Colin Friendly nicht mehr als ein schrecklich mißverstandener junger Mann, und sie würde sich weder von logischen Argumenten noch Gegenbeweisen von ihrer Überzeugung abbringen lassen.
»Wird er als Zeuge aussagen?« fragte ich.
»Er möchte es gern, aber seine Anwälte halten es nicht für ratsam. Nicht weil sie glauben, daß er schuldig ist«, fügte sie hastig hinzu. »Sie sind dagegen, weil Colin zu stottern anfängt, wenn er nervös wird, und sie möchten ihm die Strapazen eines Kreuzverhörs ersparen.«
»Das ist wahrscheinlich gut so.«
»Ich finde das Stottern irgendwie rührend. Und ich glaube, es würde den Geschworenen zeigen, wie verletzlich er in Wirklichkeit ist, daß er ein Mensch ist und nicht dieses grauenvolle Ungeheuer, von dem ihnen ständig erzählt wird.«
»Du hast ihm also geraten, selbst auszusagen?«
»Ich habe ihm gesagt, daß ich ihn in jedem Fall unterstütze, ganz gleich, wie er sich entscheidet. Aber ich glaube, für ihn selbst ist es unheimlich wichtig, die Leute zur Einsicht zu
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