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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
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während wir den Flur hinuntergingen. Die hohen Hacken ihrer braunen Sandalen schlugen knallend auf die grauen und schwarzen Quadrate des Marmorbodens. Sie trug einen weißen Pulli und einen langen, braunen, geknöpften Leinenrock, von dem nur die obersten Knöpfe geschlossen waren. Bei jedem Schritt blitzte etwas von ihren nackten braunen Beinen auf und verschwand wieder.
    »Sag’s mir doch«, bat ich sie wirklich interessiert. Es war so gar nicht Jo Lynns Art, die Introspektion zu pflegen.
    »Ach, du hältst mich ja doch nur für verrückt.«
    »Ich halte dich sowieso schon für verrückt.«
    Sie schnitt ein Gesicht.
    »Nun komm schon, worüber machst du dir Gedanken?« fragte ich.
    Wir traten durch die hohe Flügeltür in den kleinen, düsteren Vorraum des Gerichtssaals 11a. »Hier zum Beispiel«, sagte sie und blieb plötzlich stehen. »Es ist doch düster. Ich mach mir manchmal Gedanken darüber, wie es wäre, wenn es immer so düster wäre. Manchmal mach ich meine Augen zu und stelle mir vor, ich wäre blind, du weißt schon, wie wir das als Kinder manchmal getan haben, und dann denk ich plötzlich, was passieren würde, wenn ich jetzt meine Augen aufmache und immer noch nichts sehen
könnte. Das wär doch furchtbar, findest du nicht? Nichts sehen zu können, in der Dunkelheit gefangen zu sein.«
    »Ja, es wäre furchtbar, nicht sehen zu können«, stimmte ich zu und fragte mich, wie sie auf solche Gedanken kam.
    Als wir in den Gerichtssaal traten, empfing uns eine Flut hellen Sonnenlichts. Jo Lynn ging direkt zu unseren Plätzen, ohne auf die spektakuläre Aussicht zu achten.
    »Worüber machst du dir sonst noch Gedanken?« fragte ich, nachdem ich mich neben sie gesetzt hatte.
    »Ich hab Angst, daß ich Krebs kriege«, antwortete sie.
    »Das ist eine ziemlich normale Befürchtung«, sagte ich.
    »Einen Eierstocktumor, wie Gilda Radner«, sagte sie.
    »In unserer Familie hat es nie Eierstockkrebs gegeben«, beruhigte ich sie.
    »Der Krebs ist etwas so Heimtückisches, findest du nicht auch? Ich meine, denk doch mal an Gilda Radner, sie ist ein berühmter Fernsehstar, mit einem berühmten Filmschauspieler verheiratet, sie hat alles, was man sich nur wünschen kann, und eines Tages hat sie plötzlich Schmerzen und geht zum Arzt und hört, daß sie Eierstockkrebs hat, und ein paar Monate später ist sie tot. Oder diese Freundin von dir aus Pittsburgh, die bei dem Autounfall ums Leben gekommen ist. Da fuhr sie gemütlich in ihrem Auto, wahrscheinlich hat sie Radio gehört, vielleicht sogar mitgesungen, es geht ihr bestens, und in der nächsten Minute ist sie tot. Ich finde das grauenvoll. Einfach gräßlich.«
    »Es ruft dir deine eigene Sterblichkeit ins Gedächtnis.«
    »Was?«
    »Wir alle machen uns hin und wieder über solche Dinge Gedanken«, sagte ich statt dessen.
    »Aber ja, natürlich.«
    Sie sah mich forschend an, unverkennbar mit dem Verdacht, ich machte mich über sie lustig. »Du machst nie den Eindruck, als würde dich etwas beunruhigen.«
    »Ich mache mir genauso Sorgen wie jeder andere. Glaubst du denn, ich bin kein Mensch?«

    Sie rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. »Schon, aber du wirkst immer so, als hättest du alles total unter Kontrolle. Du weißt alles …«
    »Ich weiß bei weitem nicht alles.«
    »Doch. Jedenfalls vermittelst du diesen Eindruck. Kate Sinclair, die Frau, die alles hat und alles weiß.«
    Es lag keine Spur von Bitterkeit in ihrer Stimme. Sie konstatierte nur die Fakten, wie sie sie sah.
    »Aber das stimmt nicht.«
    »Doch. Kate, schau’s dir doch mal an. Du bist unglaublich organisiert. Bei dir klappt alles. Du hast einen Mann, der dich anbetet, zwei phantastische Töchter, einen tollen Beruf, in dem du auch noch erfolgreich bist, ein schönes Haus, elegante Garderobe.«
    Ich sah schuldbewußt an meinem Donna-Karan-Hosenanzug hinunter.
    »Bei dir stimmt wirklich alles«, sagte sie. »Kein Wunder, daß es Sara so schwer hat.«
    »Sara? Wovon redest du jetzt?«
    »Du bist als Vorbild unerreichbar, Kate« erklärte sie. »Es ist schon schwer genug, deine Schwester zu sein.«
    Ich hatte einige Mühe, diesem sprunghaften Gesprächsverlauf zu folgen. Hatten wir nicht zu Beginn von Jo Lynn gesprochen? Wie waren wir auf mich gekommen? Und was hatte Sara mit alledem zu tun?
    »Wie meinst du das, daß Sara es schwer hat? Inwiefern hat sie es schwer?«
    »Na ja, weil sie deine Tochter ist, weil sie weiß, was für hohe Erwartungen du an sie hast, weil sie weiß, daß

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