Am Seidenen Faden
Foyer holte, während ich am Mittwochmorgen auf die Öffnung des Sitzungssaals wartete. Ich erfuhr aus der Broschüre ferner, daß das Gerichtsgebäude vierundvierzig Verhandlungsräume beherbergt, daß die Kapazität auf sechzig erweitert werden kann, wenn zwei bisher leerstehende Stockwerke ausgebaut werden, und daß alle Verhandlungen in einem zentralen Aufnahmestudio mitgehört und auf Band aufgezeichnet werden. Wenn der Richter irgendeine Zeugenaussage, die während einer Verhandlung gemacht wurde, noch einmal überprüfen möchte, braucht er nur im Studio anzurufen und um eine Wiedergabe zu bitten. Toll, dachte ich und lächelte dem grauhaarigen alten Mann zu, der hinter dem Informationsschalter stand. Er zwinkerte mir zu. Ich kam mir uralt vor.
Einige weitere interessante Daten: Derzeit gibt es in Palm Beach County 3.780 praktizierende Anwälte; die Gerichte haben im vergangenen Jahr 311.072 Fälle bearbeitet, von denen zwei Drittel in den Verkehrsbereich fielen; an die fünf Kilometer Regale sind zur Unterbringung der 3,6 Millionen Aktenstücke nötig; es wurden neunzig Kilometer Telefonleitungen und fünfundsechzig Kilometer Computerleitungen verlegt; es gibt sechsundfünfzig Zellen für Häftlinge, denen gerade der Prozeß gemacht wird.
Der Broschüre zufolge werden die Häftlinge mit Gefängnisbussen, für die es eine eigene Garage gibt, in das Gebäude gebracht. Durch ein Labyrinth von Zellen, elektronisch gesicherten Türen, Aufzügen und Korridoren werden sie dann in den jeweiligen Gerichtssaal geführt. Das Wachpersonal ist mit Infrarotsensoren ausgestattet, die Alarm geben und automatisch eine
Zone abriegeln, wenn ein Wärter niedergeschlagen wird. Das Sicherheitssystem, das dem neuesten Stand der Technik entspricht, umfaßt unter anderem 274 Videokameras, mehr als 200 Infrarotdetektoren, 200 Sprechanlagen und mehr als 300 Türen, die nur mit Karte geöffnet werden können.
Um acht Uhr war an diesem Morgen Einlaß. Wir traten durch die große, schwere Glastür, passierten den Metalldetektor und wandten uns dann zu den Aufzügen zu unserer Rechten. Der Andrang war noch stärker als sonst, aber ich sah auch zahlreiche Gesichter, die mir von meinen früheren Besuchen bekannt waren. Eric brachte meiner Schwester immer noch getreulich ihren Morgenkaffee. Er hatte, wie Jo Lynn mir sagte, nicht einen Tag gefehlt. Sie zeigte mir noch andere, die wie er nicht einen einzigen Verhandlungstag versäumt hatten, und ich fragte mich, was diese Leute taten, wenn der Prozeß vorüber war. Hatten sie Arbeitsstellen, Familien, zu denen sie zurückkehren würden? Oder würden sie einfach zu einem anderen Prozeß gehen, einem anderen Angeklagten, auf den sie ihre Aufmerksamkeit richten konnten? In gewisser Weise ist so ein Prozeß wie eine Droge, dachte ich, als ich vom breiten Korridor aus in den großen Raum blickte, der ein wenig an eine Aula erinnerte, in dem potentielle Geschworene warteten, daß ihre Namen aufgerufen würden. Würden diese Gerichtsgroupies Entzugserscheinungen bekommen, wenn alles vorbei war? Würde vielleicht auch ich welche bekommen, fragte ich mich, als ich mir klarmachte, wieviel von meinem Leben dieser Prozeß in Anspruch genommen hatte.
Neben dem Geschworenenraum und gegenüber dem Gerichtsrestaurant war eine gut ausgestattete Fachbibliothek. Das Restaurant war von acht bis fünf geöffnet und roch immer nach Javex. Die beiden großen Aufzüge sausten auf gegenüberliegenden Seiten des Korridors hinauf und hinunter. Am Eingang von der Quadrille Street, der so stark bewacht war wie der Haupteingang, befand sich ein weiterer Metalldetektor. Ich weiß nicht, wann genau ich all diese Details wahrnahm. Vielleicht registrierte ich sie ganz automatisch, während ich auf den Aufzug wartete, der uns in die
zehnte Etage hinaufbringen sollte. Doch derart überflüssige Fakten gehörten jetzt zu meinem Leben, und ich würde sie wahrscheinlich genauso behalten wie die Tatsache, daß Brenda Marshall einmal mit William Holden verheiratet gewesen war.
»Geht es dir auch so, daß du dir plötzlich über irgendwas Gedanken machst?« fragte Jo Lynn, als wir aus dem Aufzug traten und den langen Marsch zum Gerichtssaal am Ende des Korridors antraten.
»Gedanken worüber?« fragte ich.
»Ach, über irgendwelche albernen Geschichten, über die es sich eigentlich gar nicht lohnt nachzudenken.«
»Was denn zum Beispiel?«
»Ich weiß auch nicht.« Jo Lynn starrte durch die hohen Fenster nach draußen,
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