Am Seidenen Faden
erkannt.«
»Das lag an Saras Haar.«
»Nein, das lag nicht an ihrem Haar.«
»Ich weiß«, sagte ich, mich geschlagen gebend.
»Du glaubst also, daß es Alzheimer ist?«
»Ich denke, es spricht einiges dafür.«
»Verdammt noch mal!« schimpfte Jo Lynn und schob den Teller mit dem Rest ihres Apfelkuchens mit einer zornigen Bewegung
halb über den Tisch. »So ein Mist! Das macht mich richtig wütend.«
Ihre heftige Reaktion überraschte mich. Ich hatte erwartet, Jo Lynn würde auf diese Wendung der Dinge mit dem gleichen Desinteresse reagieren wie auf alles, was unsere Mutter betraf.
»Es hat keinen Sinn, sich darüber aufzuregen«, sagte ich zu ihr. »Wenn es wirklich Alzheimer ist, können wir leider nicht viel tun. Wir können uns nur bemühen, es ihr so angenehm wie möglich zu machen.«
»Weshalb sollte ich das tun?«
Jetzt war ich wirklich konfus. »Du willst es ihr nicht angenehm machen?«
»Ich möchte, daß sie genau das bekommt, was sie verdient.«
»Was soll das heißen?«
»Warum konnte sie nicht Krebs kriegen wie alle anderen?«
»Jo Lynn!«
»Ein bißchen leiden tut der Seele gut. Ist es nicht so?«
»Du möchtest, daß sie leidet?«
»Warum sollte sie nicht leiden? Ist sie vielleicht so was Besonderes, daß sie ungeschoren davonkommen soll?«
»Sie ist unsere Mutter.«
»Und? Was heißt das? Daß ich einfach vergeben und vergessen soll? Soll ich vielleicht so tun, als wäre nichts gewesen, nur weil sie sich nicht mehr daran erinnern kann?«
»Woran soll sie sich denn erinnern? Ich versteh dich nicht.«
»Nein, natürlich nicht.« Jo Lynn schüttelte den Kopf, Tränen des Zorns in den Augen. »Du hast ja nie was verstanden.«
»Ich würde es aber gerne versuchen«, sagte ich aufrichtig.
Jo Lynn sprang auf. »Ach, was soll der Quatsch! Du hast’s ja selbst gesagt. Wir können nichts ändern.«
»Das ist nicht wahr. Manches kann man sehr wohl ändern.«
»Auch die Vergangenheit?«
»Nein, die Vergangenheit nicht.«
Jo Lynn nickte mehrmals mit Nachdruck. »Genau. Also kommt sie ungeschoren davon.«
»Was heißt das, sie kommt ungeschoren davon? Wovon redest du?«
»Entschuldigen Sie, Miss«, sagte plötzlich jemand neben uns, und als wir beide die Köpfe drehten, sahen wir einen braunhaarigen Jungen von etwa fünfzehn Jahren in abgeschnittenen Jeans, die ihm ungefähr vier Nummern zu groß waren, und einer Baseballmütze, die er mit dem Schirm nach hinten auf dem Kopf hatte. »Sind Sie nicht Jo Lynn Baker?«
»Doch.« Jo Lynn wischte sich die Tränen mit dem Handrücken aus den Augen und verzog den Mund zu einem Lächeln.
Der Junge drehte sich nach seinen Freunden um. »Sie ist es«, rief er aufgeregt. »Ich hab’s euch ja gesagt.« Er griff nach einer Papierserviette, die auf unserem Tisch lag, und hielt sie ihr hin. »Können Sie mir vielleicht ein Autogramm geben? Ich hab aber keinen Stift dabei.«
Jo Lynn kramte in ihrer Tasche nach einem Stift und kritzelte dann rasch ihre Unterschrift auf die zerknitterte Serviette. »Fröhliche Weihnachten«, rief sie ihm nach. Ihr Lächeln war jetzt strahlend und echt. »War das nicht süß?«
»Was meinst du damit, wenn du sagst, sie kommt ungeschoren davon?« wiederholte ich.
Aber Jo Lynn schlängelte sich schon zwischen den Tischen des Restaurants hindurch zum Aufzug. »Vergiß es«, rief sie zurück. »Alle anderen haben’s auch vergessen.«
Es war fast Mitternacht, als ich endlich ins Bett kam, und ich brauchte Stunden, um einzuschlafen. Die Ereignisse des Tages rumorten in meinem Hirn wie ein ganzes Rudel böser Kobolde. Endlich war ich in einen Zustand gnädiger Leere gesunken, als ich spürte, wie etwas über mein Gesicht streifte, weich und sachte, wie ein Chiffonschal. Träge, die Augen noch fest geschlossen, hob ich die Hand, um es wegzuwischen. Sekunden später geschah es wieder, nur fühlte es sich diesmal eher wie ein Klopfen auf meiner Haut an, als tropfte Wasser aus einem undichten Hahn. Mit den Fingern wedelte ich durch die Luft vor
meinem Gesicht und fand nichts. Ich drehte mich auf die Seite. Ich wollte jetzt aufwachen. Da kitzelte mich etwas im Nacken. Ich schlug danach, spürte den Schlag, als meine Hand meinen Nacken traf, und war mit einem Schlag hellwach. Widerstrebend öffnete ich die Augen, setzte mich auf, spähte ungeduldig in die Dunkelheit, sah nichts. »Großartig«, murmelte ich mit einem Blick zu Larry hinüber, der in seine Decken eingewickelt den Schlaf des Gerechten schlief. Er hatte
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