Am Seidenen Faden
Laß deine Schwester aus dem Spiel.«
»Du bist doch diejenige, die sie reingezogen hat.«
»Ja, und es tut mir leid.«
»Na schön, dann kriegt eben dieses Jahr niemand etwas von mir zu Weihnachten, weil ich kein Geld hab«, sagte sie wieder.
Ich zuckte die Schultern. »Schade.«
»Ja, du bist todtraurig darüber. Das hört man dir an.«
Das Telefon begann wieder zu läuten.
»Du willst unbedingt, daß ich an Weihnachten richtig blöd dasteh, stimmt’s?« fuhr Sara, es mit einer anderen Taktik versuchend, fort. »Du willst mich dafür bestrafen, daß ich nicht so ordentlich bin wie Michelle. Nur weil ich anders bin als ihr.«
Herr, hilf mir, dachte ich, während ich aufsprang und zum Telefon rannte. »Hallo!«
»Mrs. Sinclair?«
»Ja.«
»Gott sei Dank. Ich habe es vor ein paar Minuten schon einmal versucht und nur Ihren Anrufbeantworter erreicht.«
»Mrs. Winchell?« fragte ich, das Gesicht mit der gehetzten Stimme am anderen Ende der Leitung verbindend. »Was ist passiert? Ist etwas mit meiner Mutter?«
Es folgte ein unheilschwangeres Schweigen. »Sie ist also nicht bei Ihnen?«
»Wenn ich Michelle wäre, würdest du mir das Geld bestimmt geben!« schrie Sara wütend, während sie drohend vor mir hin und her rannte.
»Was meinen Sie?« fragte ich Mrs. Winchell.
»Ich meine, wenn ich Michelle wäre, gäbe es überhaupt kein Problem«, schimpfte Sara weiter.
»Wir können Ihre Mutter nicht finden«, sagte Mrs. Winchell.
»Was soll das heißen, Sie können meine Mutter nicht finden?« fragte ich scharf. »Wirst du wohl endlich aufhören damit!« schrie ich meine Tochter an, die daraufhin abrupt stehenblieb.
»Wie bitte?« fragte Mrs. Winchell pikiert.
»Schrei mich nicht an«, schnauzte Sara mich an.
»Bitte sagen Sie mir, was geschehen ist«, drängte ich Mrs. Winchell.
Mrs. Winchell räusperte sich, setzte zum Sprechen an, brach ab, räusperte sich noch einmal. »Ihre Mutter ist heute morgen nicht zum Frühstück heruntergekommen, und als wir hinaufgingen, um nach ihr zu sehen, entdeckten wir, daß sie nicht in der Wohnung war. Ihr Bett war unberührt. Ich hoffte, sie wäre bei Ihnen und Sie hätten nur vergessen, uns zu informieren …«
»Nein, hier ist sie nicht.« Mein Blick flog ziellos durch das Zimmer, als hielte sich meine Mutter irgendwo versteckt.
»Ist es möglich, daß sie bei Ihrer Schwester ist?«
»Ganz sicher nicht«, antwortete ich, versprach aber, Jo Lynn auf jeden Fall anzurufen. »Haben Sie das Gebäude durchsucht?«
»Wer ist denn verschwunden?« fragte Sara. »Ist Großmama verschwunden?«
»Wir sind gerade dabei.«
»Ich komme, sobald ich kann.«
»Wir werden sie sicher bald finden«, versicherte Mrs. Winchell, doch das Zittern in ihrer Stimme verriet mir, daß sie davon nicht wirklich überzeugt war. »Wenn sie sich auf Wanderschaft gemacht hat, kann sie nicht weit gekommen sein.«
Wenn sie die ganze Nacht marschiert ist, kann sie inzwischen schon fast in Georgia sein, dachte ich, während ich die Nummer meiner Schwester wählte, und sah meine Mutter, wie sie auf der Mittellinie des Highways entlangmarschierte, wie sie von einer Brücke in den Küstenkanal stürzte, wie sie komplett angezogen in den Ozean hineinwatete.
»Jo Lynn, ist Mama bei dir?« fragte ich, sobald ich die Stimme meiner Schwester hörte.
»Soll das ein Witz sein?« fragte sie zurück.
»Sie ist verschwunden. Ich hol dich in fünf Minuten ab«, sagte ich und legte auf, ehe sie Einwände erheben konnte. Ich nahm meine Handtasche und rannte zur Tür.
»Ich komme mit«, sagte Sara.
Ich lehnte das Angebot nicht ab. Ich war froh und dankbar für ihre Begleitung.
»Haben Sie sie gefunden?« fragte ich sofort, als ich mit meiner Schwester und meiner Tochter zusammen in Mrs. Winchells Büro stürzte. Ich glaube, wir boten einen ziemlich wilden Anblick – meine amazonenhafte Tochter mit den dunkelgeränderten gelben Haaren und dem Superbusen, meine ähnlich üppig ausgestattete Schwester in ihrem weißen Minikleid, das ihr kaum über den Po reichte, und ich, ungeschminkt, in alten Jeans, halb wahnsinnig vor Angst. Mrs. Winchell jedenfalls sprang auf und wich instinktiv einige Schritte zurück, als wir in ihr Büro stürmten.
»Noch nicht«, antwortete sie. Das dunkle Gesicht verriet ihre Sorge. »Aber ich bin sicher, wir werden sie finden.«
»Wie können Sie sicher sein«, rief Jo Lynn, »wenn Sie keine Ahnung haben, wo sie sein kann?«
»Haben Sie die Polizei informiert?« fragte
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