Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
ich.
    »Natürlich. Sie halten nach ihr Ausschau. Bis jetzt haben sie allerdings …«
    »… keine Leiche gefunden«, sagte Jo Lynn.
    »… niemanden gefunden, der ihrer Beschreibung entspricht«, korrigierte Mrs. Winchell.

    »Halb Florida entspricht ihrer Beschreibung«, entgegnete meine Schwester.
    »Und was geschieht in der Zwischenzeit?« unterbrach ich.
    »Wir haben alle Gemeinschaftsräume durchsucht, außerdem die Küche und die Garage. Ohne Erfolg bis jetzt. Im Augenblick werden sämtliche Stockwerke durchsucht.«
    »Ich verstehe das nicht. Wie konnte das passieren?« Ich wußte, daß diese Frage sinnlos war, aber ich stellte sie dennoch.
    »Es ist unmöglich, jeden einzelnen hier im Haus vierundzwanzig Stunden im Auge zu behalten. Dies ist kein Krankenhaus. Dies ist ein betreutes Wohnheim«, erinnerte Mrs. Winchell mich. »Die Bewohner können kommen und gehen, wie es ihnen beliebt. Wir sehen selbstverständlich jeden Morgen nach ihnen. Wenn jemand nicht zum Frühstück herunterkommt und uns vorher nicht darüber informiert hat, dann, nun ja …« Ihre Stimme verklang. »Ich bin sicher, sie wird wieder auftauchen.«
    »Unkraut vergeht nicht«, sagte Jo Lynn mit gedämpfter Stimme.
    Ich hätte beinahe gelächelt. Trotz der Umstände tat es gut zu wissen, daß meine Schwester sich gefangen zu haben schien und ihre gewohnt spöttische Art wiedergefunden hatte. Unsere Mutter hatte es immer geschafft, gerade diese Seite in ihr anzusprechen, dachte ich und fragte mich, wo um alles in der Welt sie sein konnte.
    Es dauerte noch beinahe zwei Stunden, ehe sie sie fanden.
    Einer der Hausmeister entdeckte sie im Heizraum, wo sie sich hinter einer Klimaanlage verkrochen hatte. Irgendwie hatte sie es geschafft, sich zwischen die Anlage und die Wand zu zwängen, eine beachtliche Leistung angesichts des winzigen Raums. Drei Männer brauchten fast eine halbe Stunde, um sie herauszuziehen. Als sie sie schließlich in Mrs. Winchells Büro brachten, war sie ein wimmerndes Bündel mit blauen Flecken an Armen und Beinen und zerrissenem, minzgrünem Kleid.
    Ich rannte sofort zu ihr und nahm sie in die Arme. »Alles in Ordnung?«

    »Hallo, Kind«, sagte sie. »Was tust du denn hier?«
    »Was ist passiert, Großmama?« fragte Sara und legte ihrer Großmutter behutsam die Hand auf den Rücken. »Warum hast du dich da unten hinter der Klimaanlage versteckt?«
    »Die waren hinter mir her«, vertraute meine Mutter uns mit einem Augenzwinkern an. »Aber ich habe sie überlistet.«
    »Warst du die ganze Nacht da unten?« fragte ich.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete sie und rieb sich die Arme. »Kann schon sein. Ich bin ein bißchen steif und verkrampft.«
    »Sie sind sicher hungrig«, sagte Mrs. Winchell. »Ich lasse Ihnen das Frühstück in Ihr Apartment bringen. Und selbstverständlich schicke ich Ihnen einen Arzt hinauf.«
    »Wer war denn hinter dir her?« fragte Sara.
    »Das weiß ich nicht.« Mit unsicherer Hand strich meine Mutter Sara über das Haar. »Sie sind ja wirklich ein hübsches Ding«, sagte sie. »Sind Sie neu hier?«
    Ich sah, wie Saras Gesicht sich verzog, als wollte sie weinen, und ihre Augen gleichzeitig riesengroß wurden. »Erkennst du mich nicht, Großmama?« fragte sie mit Kinderstimme. »Ich bin’s, Sara. Ich bin deine Enkelin.«
    »Sara?«
    »Ich hab mir die Haare gefärbt«, erklärte Sara.
    »Stimmt, ja«, sagte meine Mutter und lächelte. »Ich glaube, ich würde mich jetzt gern ein bißchen hinlegen.« Mit wäßrigem Blick sah sie sich im Zimmer um. »Hättet ihr was dagegen? Ich bin sehr müde.«
    »Aber natürlich nicht«, antwortete ich ihr. »Ruh dich eine Weile aus. Wir sehen später nach dir.«
     
    »Es ist nur die Haarfarbe«, sagte Sara, als wir über den Parkplatz zu meinem Wagen gingen. »Darum hat sie mich nicht erkannt. Wegen meiner Haare.«
    »Du solltest dir mal die Wurzeln nachfärben lassen, Schatz«, sagte meine Schwester.
    »Meine Mutter gibt mir kein Geld.«

    Ich sperrte die Wagentür auf. Wir stiegen ein, Sara setzte sich neben mich, Jo Lynn nach hinten. Sie streckte den Arm über die Lehne und wedelte mit fünf Zwanzigdollarnoten. »Hier. Ich lad dich ein. Weihnachten ist dieses Jahr einen Tag früher.«
    »Wau! Das ist echt cool.«
    »Du bist ja großartiger Stimmung«, bemerkte ich, entschlossen, mich über Jo Lynns Einmischung nicht zu ärgern.
    »Meine Mutter ist gesund und munter«, sagte sie sarkastisch und ließ sich in ihren Sitz zurückfallen. »Da ist die Welt wieder

Weitere Kostenlose Bücher