Am Sonntag kommt das Enkelkind - und andere Einblicke in meine Wel
sind zu beachten: Mit einem Bügeleisen, das den Preis für Design gewonnen hat, lässt sich ebenso gut ein teures Hemd versengen wie mit den Holzkohleneisen der Urgroßmutterzeit. Noch wichtiger: Bisher hat keiner es geschafft, einen befriedigenden Designermenschen zu konsultieren. Männer und Frauen sehen immer noch aus wie Adam und Eva. Und sie haben immer noch nicht kapiert, was es mit dem Baum der Erkenntnis auf sich hat.
Ein Einjähriger zieht Bilanz
Ob China zu den Olympischen Spielen die Presse knebelt oder wer in den Himmel springt, interessiert ihn nicht. Ebenso wenig der Heizölpreis. Passierten Kürbis hält er für eine Delikatesse, seinen Papa für einen Riesen, der jeden Kummer weg pfeift, und seine Mama für die einzige auf der Welt, die Kindertränen trocknen kann. So sind die Einjährigen. Sehen alles aus der eigenen Perspektive.
Am Mittwoch feiert mein Großneffe Max seinen ersten Geburtstag. Noch kommt er ohne Luftballons und Partywürstchen aus. Bekommt er aber ein Handy zu fassen, tauscht er es nicht freiwillig gegen alle Güter dieser Welt. Auch nicht gegen eine feste Stelle bei der Stadt Frankfurt oder das Bankkonto von Brad Pitt. Noch nicht einmal gegen ein Cabrio mit goldenem Lenkrad.
Weise von Nord bis Süd, von Ost bis West haben das Wunder des Lebens zu erklären versucht. Sich ihm annähern kann nur der Glückliche, der Tag für Tag erleben darf, wie aus ein paar hundert Gramm Baby ein Mensch wird. Die Zaungäste dieses Wunders werden gebeten, sich zu verneigen. In seinen ersten zwölf Monaten hat Max lächeln gelernt und sitzen, krabbeln, aufstehen, Tränen gezielt als Waffe einzusetzen und zu lachen, dass sich die Balken biegen. Wer mag ihm da ankreiden, dass es ihm schnurz ist, ob die Eintracht gewinnt oder verliert?
So ein Kind lehrt die, die es schon lange nicht mehr sind, dass das Leben herrlich ist und die Welt ein Vergnügen. Jede Schublade, an der so ein Minimensch zerrt, nährt die Entdeckerfreude, der die Menschheit den Hammer, das Rad und die Suppenkelle verdankt. Das macht allein die Neugierde. Gelb vor Neid könnte man werden, wenn man sieht, wie so ein Winzling die Welt bestaunt und betatscht. Und bejubelt! Aber Vorsicht! Allerorten lauern Griesgrame, die Kindern ihre Neugierde abgewöhnen, denn sie empfinden das schöne Wort »Warum?« als Kränkung und grunzen lieber, als zu reden. Aus künftigen Genies machen solche Leute Lebensverbraucher. Die lassen dann Schubladen zu, schrauben nicht mehr an Dosen und kippen keine Vasen um. Gut, dass der kleine Max keinen Schimmer hat, wie das Leben so läuft.
Wir alle brauchen Märchen
Ein Sommermärchen sollte es werden, doch das Fußballglück langte nur für Platz drei. Als der Winter uns das Fürchten lehrte, flehten wir den Himmel um einen Märchensommer an. Jetzt haben wir den Klimasalat. Höllenheiße Tage, schwüle Nächte, gereizte Menschen, Wolken, die platzen und uns das hässliche Wort Unwetter um die Ohren klatschen. Sehen so die Märchen aus? War auf sie früher auch mehr Verlass als heute?
Drei Mal nein. Die Märchenwelt war immer tückisch und nie zimperlich. Bis die Hochzeitsglocken läuteten und das junge Paar ins immerwährende Märchenglück entschwand, war der Weg mit Dornen und Gemeinheiten gepflastert. Tränen wurden eimerweise geweint. Schneewittchen hatte drei Mordversuche und sieben Zwergenmachos zu überstehen, ehe sie im gläsernen Sarg erwachte und ins Eheleben startete. Dornröschen lag 100 Jahre im Koma, bis der Prinzenkuss sie in die Wirklichkeit zurückholte. Selbst Kinder hatten in der Märchenwelt nichts zu lachen. Hänsel und Gretel wurden von den Eltern im Wald ausgesetzt, Rotkäppchen im Haus der Großmutter vom Wolf gefressen. Väter jagten ihre Söhne aus dem Haus, junge Frauen verführten ältere Männer und missbrauchten deren Töchter als Küchenmägde. In meinem Lieblingsmärchen wird Brüderchen nur deshalb in ein Reh verwandelt, weil er seinen Durst in einer Quelle löscht.
Noch gar nicht lange ist es her, dass Menschen, die es mit der Wahrheit nicht genau nahmen, vorgeworfen wurde, sie würden Märchen erzählen. Jemandem einen Bären aufzubinden oder ihm ein Märchen aufzutischen, galt als erzdumm. Der Satz »Erzähl mir bloß keine Märchen!« war eine halbe Kriegserklärung. Wer Ammenmärchen in Umlauf setzte, hatte mit Verachtung zu rechnen. Heute verlangen wir nach Märchen am laufenden Band. Im Märchenschloss wollen wir wohnen, einen Märchenprinzen heiraten und mit ihm
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