Am Strand des Todes
solltest das Haus verkaufen, damit du dir
selbst einen Wagen leisten kannst«, meinte Chip mit einem
Lächeln, als sie die Halle des verhältnismäßig großen
viktorianischen Baus betraten. Der alte Mann hatte ihn vor
mehr als sechzig Jahren für seine Braut errichtet.
»Dafür bin ich jetzt zu alt«, meinte Riley bekümmert. »Sie
geben mir keinen Führerschein mehr, und außerdem könnte ich
nirgendwo sonst wohnen. Weißt du, ich fühle mich hier nie
einsam. Deine Großmutter lebt noch immer in diesem Haus.«
Als Chip ihn etwas zweifelnd anschaute, wurde der Alte
ungehalten.
»Ich spreche nicht von Geistern!« knurrte er, »sondern von
Erinnerungen. Wenn du in mein Alter kommst, wirst du
begreifen, wovon ich rede. Jedes Zimmer hier ist für mich
voller Erinnerungen. An deine Großmutter, deine Mutter, ja
sogar an dich…«
Sie begaben sich ins Wohnzimmer neben der Halle. Chip
warf einen langen Blick auf das Porträt seiner Großmutter über
dem Kamin.
»Sie sieht Harney Whalen recht ähnlich«, kommentierte er.
»Warum auch nicht?« erwiderte der Alte, »sie war
schließlich seine Tante.«
»Weiß ich doch. Aber aus irgendeinem Grund vergesse ich
das immer wieder. Ich halte Harn immer nur für einen alten
Bekannten der Familie, nie für einen Blutsverwandten.«
»Das macht in dieser Gegend sowieso keinen großen
Unterschied«, meinte der Alte. Er stellte den Scotch auf den
Tisch und goß zwei große Gläser ein – pur. Eines davon reichte
er Chip.
»Macht er dir Probleme – Harn Whalen?«
Chip nickte und nahm einen kleinen Schluck von seinem
Scotch. Angenehm prickelnd lief er ihm durch die Kehle. »Ich
mach’ mir Sorgen über ihn«, erklärte er zögernd und schwieg
dann nachdenklich. »Da sind eine Reihe seltsamer kleiner
Dinge… Vor allem aber wird sein Verhalten Fremden
gegenüber immer unerklärlicher.«
»Keiner hier mag Fremde so gern«, wies Riley ihn zurecht,
»das hat lange Tradition.«
»Aber dafür gibt es doch gar keine Gründe«, wehrte sich
Chip.
»Das mag dir heute so erscheinen«, erwiderte der Alte,
»doch ich sage dir, es gibt bestimmt Gründe dafür – weit in der
Vergangenheit. Und jetzt sag mir, was mit Harney los ist!«
»Er hat es auf Glen Palmer abgesehen.«
»Palmer? Ich wußte gar nicht, daß du ihn persönlich kennst.«
»Das tat ich auch nicht bis vor einigen Tagen«, antwortete
Chip, »bis zum Tag nach dem Trauergottesdienst für Miriam
und Pete Shelling.«
Riley nickte kurz. »Ich war auch dort, zusammen mit Tad
und Clem. Ich hab’ die Palmers dort gesehen.«
»Und deshalb hat mich Harney zu ihnen rausgeschickt. Er
wollte wissen, warum sie den Gottesdienst besuchten.«
»Das scheint mir doch eine gewisse Berechtigung zu haben«,
meinte der alte Mann, »und hast du herausgefunden, warum?«
»Sicher, war sowieso nichts Geheimnisvolles. Glen
allerdings war der Ansicht, daß es uns nichts anginge.«
»In einer Kleinstadt wie dieser geht alle alles an«, grinste
Riley.
»Wie dem auch sei«, fuhr Chip fort, »Glen sagte mir, daß
seine Frau unbedingt den Gottesdienst besuchen wollte, das
war alles. Ich habe es Harney gesagt, aber dieser hat sich damit
nicht zufrieden gegeben. Im Gegenteil – er hat versucht, Glens
Arbeiten zu vernichten.«
»Was soll das heißen?«
Chip erzählte seinem Großvater, was er beobachtet hatte.
»Ich fühlte mich beschissen dabei«, erklärte er. »Deshalb hab’
ich auch Glen geholfen, den Schaden zu beheben – er ist ein
wirklich netter Bursche. Inzwischen haben wir schon einige
Zeit zusammen verbracht. Das ist wirklich komisch – er kann
alles malen und zeichnen, aber kaum hat er eine Säge in der
Hand, ist er verloren.« Chip lächelte seinen Großvater an.
»Wart, bis du die Galerie gesehen hast. Seine Einfälle und
meine Handarbeit, das ist wirklich sehenswert!«
»Wirst du dafür bezahlt?«
Chip wand sich ein wenig. »Nicht mit Geld, Glen hat im
Augenblick sowieso keins. Aber trotzdem hab’ ich etwas
davon. Ich lerne viele Dinge kennen, von denen ich keine
Ahnung hatte. Nichts Weltbewegendes, natürlich. Immerhin ist
es das erste Mal, daß ich jemand näher kennenlerne, der nicht
von hier ist. Und je besser ich Glen kennenlerne, desto
Weniger verstehe ich Harneys Verhalten. Würde auch er ihn
etwas genauer kennen, würde sich das bestimmt ändern.«
»Wetten würde ich darauf nicht«, meinte der Alte.
»Ich kann ja verstehen, daß er Fremden gegenüber
mißtrauisch ist. Aber inzwischen übertreibt er es! Er hat keinen
Finger gerührt, um
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