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Am Strand

Am Strand

Titel: Am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Zärtlichkeit. Um jetzt damit anzufangen, war es außerdem zu spät.
    Daß sie einen Fehler gemacht hatte, wußte sie schon wenige Augenblicke nachdem sie aus dem Sonnenlicht in den Saal getreten war. Während sich ihre Augen ans Halbdunkel gewöhnten, schaute sie sich mit einer Neugier um, die auch nicht größer gewesen wäre, wenn sie die Silbergeschirrsammlung im Ashmolean-Museum betrachtet hätte. Ein Junge aus Nordoxford, dessen Namen ihr entfallen war, ein schlaksiger Zweiundzwanzigjähriger mit Brille, tauchte plötzlich aus dem Dämmerlicht auf und nahm sie in Beschlag. Ohne jede Einleitung begann er ihr die Folgen des Abwurfs einer einzigen Wasserstoffbombe über Oxford zu schildern. Vor knapp einem Jahrzehnt - damals waren sie beide dreizehn gewesen - hatte er sie nach Park Town zu sich nach Hause eingeladen, nur drei Straßen weiter, wo sie eine neue Errungenschaft bewundern durfte, einen Fernsehapparat, den ersten, den sie je gesehen hatte. Auf einem kleinen, trüben, von geschnitzten Mahagonitüren eingefaßten Bildschirm saß ein Mann im Smoking an einem Tisch, während um ihn ein Schneesturm zu toben schien. Florence fand, es sei ein lächerliches Gerät ohne jede Zukunft, doch seither glaubte dieser Junge - John? David? Michael? -offenbar, er habe sich ihre Freundschaft verdient und dürfe diese Schuld nun eintreiben.
    Das Pamphlet, von dem er zweihundert Stück unter dem Arm hielt, veranschaulichte Oxfords Schicksal, und Florence sollte die Zettel in der Stadt verteilen helfen. Als er sich vorbeugte, roch sie die Pomade in seinem Haar. Seine papierne Haut wirkte gelbstichig im Dämmerlicht, dicke Gläser verengten die Augen zu schmalen schwarzen Schlitzen. Florence, die zu keiner Unhöflichkeit fähig war, setzte eine interessierte Miene auf. Hochgewachsene, schlanke Männer hatten etwas Faszinie-rendes: wie Knochen und Adamsapfel beinahe unverhüllt unter der Haut vortraten, das Vogelgesicht, die raubtierhaft gebeugte Gestalt. Der Bombenkrater, den er beschrieb, maß knapp einen Kilometer in der Breite und in der Tiefe über dreißig Meter. Wegen der Radioaktivität würde man zehntausend Jahre lang nicht einmal in die Nähe von Oxford dürfen. Fast schien, was er sagte, Erlösung zu verheißen. Dabei prangte die prächtige Stadt draußen in sommerlicher Blüte, die Sonne wärmte den honigfarbenen Cotswolds-Stein, und der Rasen vor dem Christ Church College war saftig grün. Hier im Saal sah sie über die schmalen Schultern des jungen Mannes hingegen nichts als murmelnde, Stühle aufstellende, durchs Halbdunkel irrende Gestalten - und dann entdeckte sie Edward, der direkt auf sie zukam.
    Viele Wochen später, wiederum an einem heißen Tag, stakten sie mit einem Kahn den Cherwell hinauf zum Vidcy Arms und ließen sich dann zum Bootshaus treiben. Unterwegs hielten sie an einer Rotdorngruppe an und ruhten sich in deren kühlem Schatten aus; Edward lag auf dem Rücken, einen Grashalm zwischen den Zähnen, Florence mit dem Kopf auf seinem Arm. Sobald sie auch nur einen Moment verstummten, hörten sie die Wellen gluk-kern und wie das Boot dumpf gegen den Baumstumpf schlug, an dem Edward es festgemacht hatte. Ein leichter Wind trug gelegentlich das seltsam besänftigende Rauschen des Verkehrslärms von der Banbury Road herüber. Eine Singdrossel ließ ihr kunstvolles Lied ertönen, wiederholte eifrig jede Strophe und kapitulierte schließlich vor der Hitze.
    Edward hatte mehrere Jobs, der wichtigste war der eines Platzwarts im Kricketklub. Florence verbrachte fast jede freie Minute mit dem Quartett. Für Zweisamkeit blieb wenig Zeit, doch war sie deshalb um so kostbarer. Diesmal hatten sie sich einen Samstagnachmittag gestohlen. Sie wußten, es würde einer der letzten richtigen Hochsommertage sein - es war Anfang September, und Gräser und Blätter waren noch grün, sahen aber schon ein wenig schlaff und erschöpft aus. Das Gespräch der beiden hatte sich jenem - mittlerweile von Legenden umrankten - Moment zugewandt, in dem sie einander zum ersten Mal begegnet waren.
    Als Antwort auf eine mehrere Minuten zuvor von Edward gestellte Frage erwiderte Florence schließlich: »Weil du keine Jacke getragen hast.«
    »Was dann?«
    »Hmm, ein weites, weißes Hemd mit bis zu den Ellbogen hochgekrempelten Ärmeln, dessen Schöße aus dem Hosenbund vorkamen ...« »Unsinn.«
    »Dazu eine graue Flanellhose mit einer Stopfstelle am Knie, schmutzige, an den Zehen schon fast durchgestoßene Turnschuhe und langes Haar,

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