Am Tor Zur Hoelle
war eine Erkenntnis, die von irgendwo tief in meinem Inneren herrührte.
Als ich dort saà und diesen vietnamesischen Mann betrachtete, begannen mich die Erinnerungen an den Krieg zu überfluten. An Dinge, an die ich mich nie zuvor erinnert hatte, an Ereignisse, deren Existenz ich vollkommen vergessen hatte. Eine der Erinnerungen, die zurückkehrten, half mir zu verstehen, warum ich Jahre zuvor nicht in der Lage gewesen war, das Weinen meines kleinen Sohnes zu ertragen.
Irgendwann, ich war vielleicht sechs Monate in Vietnam, befanden wir uns in der Nähe eines Dorfes. Wir landeten am Dorfrand und stellten die Motoren unserer Hubschrauber aus. In einer solchen Situation kamen oftmals Kinder angerannt und scharten sich um die Hubschrauber und bettelten um Essen oder boten uns Bananen zum Kauf an oder Ananas oder Coca-Cola oder die sexuellen Dienstleistungen ihrer Mütter und Schwestern. An diesem Tag war es eine besonders groÃe Gruppe von Kindern, vielleicht fünfundzwanzig. Die meisten hatten sich um den Hubschrauber in der Mitte versammelt. Je gröÃer die Gruppe der Kinder wurde, desto gefährlicher wurde die Situation für uns, denn die Vietkong setzten Kinder oft gegen uns ein, also versuchte jemand, sie zu verscheuchen, indem er eine Runde aus einem M-60 Maschinengewehr über ihre Köpfe hinweg feuerte. Die Kinder rannten davon, aber ein Baby blieb auf dem Boden zurück, weinend, keinen Meter von dem Hubschrauber in der Mitte entfernt. Gemeinsam mit drei, vier weiteren Soldaten schickte ich mich an, auf das Baby zuzugehen. Das gebot mir meine Nicht-Kriegs-Konditionierung. Doch im nächsten Augenblick sagte mir mein Instinkt, dass etwas nicht stimmte. Und noch während der Gedanke in meinem Kopf Gestalt annahm, den anderen zuzurufen, sie sollten innehalten, streckte einer von ihnen die Hände aus, nahm das Baby hoch, und es explodierte. Das Baby war mit einer Sprengladung versehen worden, einer Bombe, die drei Soldaten tötete. Ich stürzte zu Boden, von Blut und zerfetzten Körperteilen bedeckt.
Dieses Ereignis war so übermächtig gewesen, dass mein Bewusstsein es weder verarbeiten noch bewahren konnte. Dieses Ereignis blieb bis zum Jahr 1991 verborgen. Doch als ich dort saà und diesen Mönch anschaute, der das Retreat leitete, kam Vietnam zu mir zurück. Die nicht bewältigten, unterdrückten Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen. Ich verstand zum ersten Mal, dass der Krieg mir mein Vermögen, Beziehungen zu knüpfen und zu bewahren, genommen hatte. Wie die Auswirkungen des Krieges mich, wie vor mir auch meinen Vater, daran gehindert hatten, eine innige Beziehung zu meinem Sohn oder auch zu anderen Menschen aufzubauen. Ich war stets vor meinem Unbehagen geflüchtet, hatte meinen Sohn im Stich gelassen, als er drei Jahre alt war. Nicht, weil ich es nicht aushielt, bei ihm und seiner Mutter zu sein, wie es mein Leiden mir einzureden versuchte, sondern weil ich es in meiner Haut nicht aushielt. Ich war unfähig, auf irgendeine herkömmliche Weise zu leben.
In Gegenwart dieses Mönches und seiner Mitarbeiterin Chan Khong, einer Nonne, die auch aus Vietnam stammte, sah ich mich fortwährend mit Kriegserinnerungen konfrontiert. Die Erinnerungen wallten in mir auf, und ich durchlebte all die ursprünglichen Ãngste aufs Neue. Einmal beispielsweise standen die Menschen, die an dem Retreat teilnahmen, in einem Kreis beisammen und machten irgendwelche Ãbungen. Ich mochte mich ihnen nicht anschlieÃen, weil ich mich nicht sicher fühlte. Als Schwester Chan Khong den Kreis verlieÃ, geriet ich in Panik; Verzweiflung überkam mich, weil ich keine Waffe bei mir trug. Ich wurde plötzlich von der Erinnerung daran überwältigt, wie wir in das »friedfertige« Dorf gingen und die Mönche mit ihren Maschinengewehren das Feuer auf uns eröffneten. Und jetzt stand ich hier und beobachtete eine vietnamesische Nonne, die eine Gruppe amerikanischer Veteranen verlieÃ, die allesamt unbewaffnet und verletzbar waren. Ich hatte so entsetzliche Angst, dass ich fürchtete zu explodieren. Wem konnte man vertrauen? Wem?
Bei dem Retreat sagte Thich Nhat Hanh zu uns: »Ihr Veteranen seid die Flamme am Ende der Kerze. Ihr brennt hell und heiÃ. Ihr besitzt ein tiefes Verständnis von der Natur des Leidens.« Er sagte uns, dass die einzige Möglichkeit, Heilung zu erfahren und das Leiden zu verwandeln, darin bestehe, sich dem
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